Ines Geipel
Umkämpfte Zone
Mein Bruder, der Osten und der Hass
"Wir, unsere destruktive Besessenheit, unsere verwaisten Erfahrungen. Es wird purer, ärger, härter. Die große Wut und die Freiheit. Der Osten als Kondensat, als Petrischale der Gewalt, als umkämpfte Zone. Was geschieht da?"
Deutsche Gewaltgeschichte
Was derzeit geschieht, welche Gründe die breite Zustimmung zu rechtsextremem Gedankengut auf dem Gebiet der ehemaligen DDR hat, ist eine der Fragen, die Ines Geipel antreiben, genau hinzuschauen. In die Geschichte ihrer eigenen Familie ebenso wie auf die des Landes, in dem sie groß wurde und das sie schon vor seinem Ende verließ. Die Trauer um ihren sechs Jahre jüngeren Bruders Robby, der vor zwei Jahren an Krebs starb, wird zur fragilen Verbindung zwischen den Gewalterfahrungen der Kindheit, die beide zu Verbündeten werden ließ, und dem Totschweigen der deutschen Gewaltgeschichte in der DDR. Die Erinnerungen an ihre gemeinsame Jugendzeit lassen das Schweigen und Verleugnen im Binnenklima der postfaschistischen DDR sehr lebendig werden. Hinter der Wucht des Umbruchs nach 1989 blieb verborgen, wie sehr die neuen Herrscher, die nach dem Krieg aus der Emigration in Moskau zurückkehrten, auf die alten Mechanismen von Diktatur und Machterhalt aufsattelten.
Entlastung durch die Staatspartei
Mit dem Mythos der Widerstandskämpfer und Helden von Buchenwald entlastete die Staatspartei die Ostdeutschen und erklärte ihr Land zur reinen Opfergesellschaft. Die Frage, warum es nicht, wie im Westen, zum politischen Vatermord kam, zum Aufstand der Jüngeren gegen die verknöcherten Politgreise, beantwortet Geipel in prägnanter und kundiger Weise:
"In dem Fall hätten Hitlers Kinder gegen die Verfolgten des Nationalsozialismus revoltieren müssen. Das aber war die unüberschreitbare Grenze nach innen, ein absolutes Tabu."
Und wer sich verweigerte und gegen ein Leben wie auf einem toten Gleis rebellierte, musste Lebensverlust, verhinderte Karrieren, Einsamkeit in Kauf nehmen, und konnte das Land nicht einmal mehr verlassen - "Der Riss war unerbittlich. Nicht wenige stürzten in ihn hinein."
Anschaulich beschreibt Ines Geipel, wie auch schon in ihren früheren Büchern, wie Hardliner, Ideologen und kalte Krieger alles daran setzten, die Aufklärung der privaten Gewaltgeschichten der Väter und Großväter, ebenso wie die der beharrlich schweigenden Mütter zu unterbinden und so die Auseinandersetzung mit der Nazidiktatur auf den staatlich gefeierten Antifaschismus zu reduzieren.
Rückzug und Scham
Die SS-Vergangenheit beider Großväter war niemals ein Thema in der Familie, ebensowenig wie die Stasitätigkeit des Vaters, eines "Mannes ohne Hemmungen". In der gedächtnispolitischen Neubegründung des vereinten Deutschland spielte der Osten folgerichtig keine Rolle, in den Debatten zur NS-Geschichte, die ja nach der Wende durchaus heftig geführt wurden, war er nicht anwesend. Gegenüber dem aufkommenden Rassismus und Antisemitismus war man in der DDR von Anfang an gefährlich blind, indem man ihn für nicht existent erklärte. Schon Ende der siebziger Jahre erzählte ihr der Bruder von Hakenkreuzschmierereien, und Untersuchungen dazu ließ die DDR schon seit den fünfziger Jahren verschwinden. Durch ihren Bezug zum eigenen Vater, der seine Kinder systematisch misshandelte, wird Geipels Befund mit großer persönlicher Trauer unterlegt, denn ihr Bruder und sie erfuhren die Gewalt am eigenen Leibe – und erlebten im wiedervereinten Deutschland, wie schwer es ist, dafür eine Sprache zu finden.
"Nahm er mir übel, dass ich weg war? Nein, es war anders. Robby und ich waren in einem Raum gewesen, an den wir nicht erinnert werden wollten. Jetzt nicht. Nicht so. Wir verstanden ihn nicht. Wir hatten keine Worte für ihn. Wir zogen uns zurück. Wir schämten uns voreinander."
Schlüssel zum Verstehen
Später kämpft Ines Geipel sich durch die 800seitige Akte ihres Vaters, der zum Terroragenten ausgebildet und jahrelang in der BRD eingesetzt wurde, liest Hunderte seiner Berichte und erlebt, wie ihr Bruder sich verschloss. Er gab dem 'positiven Verdrängen' den Vorzug, weil er ahnte, dass er den Blick zurück nicht mehr ertrug. Am Ende hält sie die Hand des Sterbenden, der die Leerstellen seiner Geschichte dennoch bei ihr bergen möchte. Ines Geipel klagt nicht pauschal an, sie stellt viele Fragen. Mit schmerzhafter Subjektivität und in einer schönen, empathischen Sprache nähert sie sich den Opfern der Geschichte an:
"Was macht das mit einer Gesellschaft, wenn die Kriegsschicksale der Großväter, Brüder, Onkel, Väter auf Dauer ungeklärt bleiben und die frühe Oppositionsgeschichte der DDR zur Feindgeschichte umerzählt wird? Wenn die Fragen keine Fragen sein dürfen, wenn Gefühle sinnlos werden, weil sie keinen Sinn haben dürfen…? Wann hört man auf zu hoffen, zu warten, zu denken, zu fragen? Wohin wird die unabschließbare Trauer verschoben?"
Eine der wichtigen Fragen ist heute vor allem die, wie es gelingen kann, sich von der doppelten Diktaturerfahrung zu emanzipieren und nicht zu flüchten, in die Krankheit, in die Verleugnung und schließlich, sehr aktuell, ins Autoritäre. Dass dies nicht allein eine Aufgabe der Ostdeutschen sein kann, liegt auf der Hand, doch die besonderen Erfahrungen der Ostdeutschen müssen endlich einen Raum und öffentliche Anerkennung finden. Ines Geipels fundiertes und vielschichtiges Buch ist dafür unverzichtbar, denn es bietet einen Schlüssel zum Verstehen an.
(Lore Kleinert)
Ines Geipel, *1960 in Dresden, ehemalige Weltklasse-Sprinterin, deutsche Schriftstellerin und Professorin an der Hochschule für Schauspielkunst "Ernst Busch" Berlin
Ines Geipel "Umkämpfte Zone"
Mein Bruder, der Osten und der Hass
Klett-Cotta 2019, 377 Seiten, 20 Euro
eBook 15,99 Euro,
Weiterer Buchtipp zu Ines Geipel
"Generation Mauer" - Ein Porträt