Ines Geipel
Generation Mauer
Ein Porträt
Vor 1989 ein Leben in der Diktatur, eines danach, mit vielen Brüchen und der Chance zum Neubeginn - Ines Geipel nähert sich der von ihr angesprochenen Generation vor allem mit Fragen, bietet so die Chance mitzugehen zu jedem einzelnen, aufmerksam und angespannt:
"Wer bleibt, wer geht, wer darf auftauchen? Wer fällt vollends in den Riss? Wer entscheidet darüber, woran wir uns erinnern? Wer filtert das Ganze? Wer darf sagen, was die Kultur und das Gedächtnis eines Landes ist? Was ist Geschichte?"
Begegnungen
Wer den Bogen so weit spannt, will Antworten bekommen und weiß doch, wie wenig sie zu verallgemeinern sind. Begegnungen mit Freunden und Gleichaltrigen, die in der DDR erwachsen wurden und ihr Leben nach dem Zusammenbruch neu justieren konnten, sind der Schlüssel für die Autorin, die selbst zur Weltklasse-Sprinterin trainiert wurde und die DDR noch vor der Wende verließ.
Rückschau
Die Rückschau in die sehr unterschiedlichen Lebenswege fällt schwer, denn dieses Land war nicht darauf aus, seine jungen Bewohner, die im Frieden Nachgeborenen, stark zu machen. Sie mussten gegen die historischen Neurosen der Väter und Mütter Stärke entwickeln - das unterscheidet sich kaum von den Gleichaltrigen in der Bundesrepublik; doch der Raum, in dem sie lebten und der verschwunden ist, muss neu vermessen werden:
Intensive Dialoge
"Die DDR war ein spießiges, düsteres, irgendwie suspektes Land. Wir hatten keine Fragen zu ihr. Sie war nicht unser Problem", so eine der Gesprächspartnerinnen, und Ines Geipel fragt beharrlich nach, nimmt ihre eigenen Erinnerungen ernst und nutzt sie als Material und Kompass für intensive Dialoge mit ihren starken Protagonisten: dem Historiker Ilko-Sascha Kowalczuk, Sabine Adler als Deutschlandfunkkorrespondentin, dem Leiter des Literaturhauses Hauke Hückstädt, dem Maler Moritz Götze; und auch denen, die auf der Strecke blieben wie Robbie, dessen Tod sie in sich versiegelt hatte.
Blinde Flecken
"Wann sind Umwege einfach nur Spiegelungen, und ab wann werden sie zur eigenen Lebensbahn? Wo gibt es sie, die Landkarten für die eigenen blinden Flecken und die für die Umwege? … Es ist nicht so einfach, über Dinge wie diese zu schreiben. Über die Akkuratesse der Leere, der Brutalität, der Dumpfheit, in der wir lebten. Über das spezielle Angstsystem in diesem 40 Jahre währenden Einschluss."
Suche nach dem Selbst
Die Autorin weiß, wie das Doppelerbe politischer Gewalterfahrung Angst und Anpassung verschärfte. Ihre Versuche, im 'verborgenen Osten' den Kern wiederzufinden, die Innensicht von damals mit der Erfahrung danach zu verbinden und zu einer genaueren Positionsbestimmung zu kommen, bleiben Versuche, aber sie ergänzen einander, sind aufschlussreich und sehr gut nachzuvollziehen. Ines Geipel, inzwischen Schriftstellerin und Professorin, kennt die Grenzen einer Suche nach dem Selbst im Anderen, und sie prüft die Worte und hat ein feines Sensorium für Ungesagtes, Verdrängtes, vielleicht Ungelebtes entwickelt, das sie ebenfalls der Befragung unterzieht.
Verrat und Schweigen
"Sind Worte in der Lage, eine Zeit noch einmal zu erfinden, ihre Einsamkeit, ihre Zweifel, ihre Ängste? Wie kommt man weg, wie sich lösen von einem Vater, der selbst vaterlos gewesen ist, von einem System, das zum Vaterland nicht taugte, wie mit den Verletzungen, wie mit der Wut klarkommen, wie das eigene Nichtverstehen verstehen?"
Die Archive sind offen, der Weg für die historische Forschung frei, doch erst Fragen wie die in diesem wichtigen Buch führen wirklich zum Verstehen, zum Ankommen in der eigenen Geschichte, zum Überwinden der Unkultur des Verrats und des Schweigens.
(Lore Kleinert)
Ines Geipel *1960 in Dresden, ehemalige Weltklasse-Sprinterin, deutsche Schriftstellerin und Professorin an der Hochschule für Schauspielkunst "Ernst Busch" Berlin
Ines Geipel "Generation Mauer" - Ein Porträt
Klett-Cotta 2014, 275 Seiten, 19,95 Euro
eBook 15,99 Euro
Weiterer Buchtipp zu Ines Geipel
"Umkämpfte Zone" - Mein Bruder, der Osten und der Hass