Max Frisch
Aus dem Berliner Journal
"Übernahme der Wohnung (Sarrazin Strasse 8) und Abend bei Grass. Nieren."
So kurz und bündig beginnt das Tagebuch, das nach dem Willen von Max Frisch erst 20 Jahre nach seinem Tode veröffentlicht werden durfte.
Anfänge in Friedenau
Wir schreiben das Jahr 1973, Max Frisch und seine Frau sind nach Berlin gezogen. Die Wohnung ist leer, von Anna Grass leihen sie Betten; warmes Wasser, Telefon und Kühlschrank kommen später. "Jeder Schritt, jede Stimme hallt in den leeren weissen Räumen."
Wir erfahren von prominenter Nachbarschaft. Im idyllischen Friedenau ("viele Rentner") rund um die Sarrazinstraße und den Breslauer Platz, wo Frischs auf dem Wochenmarkt einkaufen gehen, leben Schriftsteller und Künstler; Uwe Johnson, Günter Grass, Hans-Magnus Enzensberger sind Nachbarn der Neu-Berliner.
Zweifel an sich selbst
Mangel an Geld herrscht nicht, auch das schreibt Frisch gleich zu Beginn, aber ganz offensichtlich mangelt es ihm an Selbstvertrauen, er bemitleidet sich selbst. Seine Notizen vermitteln Überdruss und Langeweile, klingen zweifelnd und depressiv:
"Deformation durch Schriftstellerei als Beruf, Popanz der Öffentlichkeit; als lebe man, um etwas zu sagen. Wem?"
Blick auf die DDR
Westberlin findet kaum statt in diesem Journal, Frisch ist vom Osten fasziniert. Als prominenter Gast der Leipziger Buchmesse begegnet er Journalisten und Verlegern. Er trifft sich wiederholt mit Günter Kunert und Jurek Becker, Wolf Biermann und Christa Wolff. In diesen Gesprächen spiegeln sich politisches Interesse und kritischer Blick, die Neugier auf den Umgang mit dem System:
"Treffen mit Christa Wolf. Ihre neue Art, offen zu reden, ohne Zweifel loyal gegenüber dem System, kritisch-offen. Nicht aufdringlich, nur ebenso offen ist ihre Überzeugung, dass die Leute hier humaner sind, Menschen."
Ironische Bobachtungen
Wir lesen großartige Schriftstellerporträts, in denen er nicht spart mit ironischen Anmerkungen und scharfen Beobachtungen, vor allem mit Grass kommt er nicht klar:
"Ich weiß nicht, wie ich es ihm sage, wenn ich mit seinen Proklamationen nicht einverstanden bin, mit seinem Hang zur Publizität … Braucht er seinen Namen in den Zeitungen? … Wie heilt man ihn?"
Mann in der Krise
Wir lernen einen Mann in der Krise kennen, der abhängig ist vom Alkohol, an Selbstmord denkt, nichts wirklich Gutes zu Papier bringt. Ein Mann, der leidet – an sich selbst, seinem Alter, einer offensichtlich gescheiterten Ehe:
"Gelegentlich wundere ich mich, dass ich 62 werde. Kein körperliches Gefühl davon, dass es in wenigen Jahren zu Ende ist. Wie bei einem Blick auf die Uhr: So spät ist es schon?"
"Aus dem Berliner Journal" wurde nur in Auszügen veröffentlicht, vieles bleibt noch gesperrt.
1974 endet es. Frisch zieht weiter nach Amerika, auch in neue Liebesabenteuer. Seine 28 Jahre jüngere Frau bleibt in Berlin.
(Christiane Schwalbe)
Max Frisch "Aus dem Berliner Journal"
Herausgegeben von Thomas Strässle unter Mitarbeit von Margit Unser
Suhrkamp 2014, 235 Seiten, 20 Euro
eBook 16,99 Euro