Dirk Pope
Still!
"Wer nicht redet, hat nichts zu sagen. Sagt man. Vielleicht stimmt das wirklich. Vielleicht ist es mir nur einfach zuwider, zu reden, ohne etwas zu sagen."
Schweigen
Mariella spricht nicht, weder mit ihrer Mutter, bei der sie lebt, noch mit Lehrern und Mitschülern oder dem Vater, der hin und wieder anruft. Das geht so, seit die Eltern sich getrennt haben und die Mutter mit ihr in eine Kleinstadt gezogen ist. In der Schule wird sie aus diesem Grund gemobbt und zwar nicht nur von ihren Mitschülern, auch die Lehrer fühlen sich herausgefordert und machen auf ihre Art mit oder schauen zumindest weg.
"Erst neulich zwang mich Frau Kreuzer, nach vorne zu kommen und meine Hausaufgabe vorzulesen … Ich hatte an dem Aufsatz bestimmt zwei Stunden gesessen und hätte ihn ihr gerne nach der Stunde zum Lesen gegeben … Ich nahm mein Heft, stellte mich vor die Klasse. Dann schlug ich es auf und bewegte zu jedem Wort, das darin stand, meine Lippen. Ich las meinen Aufsatz lautlos vor. Die Klasse tobte."
Sie muss deswegen zum Schulleiter. Die Situation verschlimmert sich, ein Mitschüler schleudert ihr im Sportunterricht mit Absicht einen Ball ins Gesicht – danach: ein Kartell des Schweigens.
Schweigen und doch reden
Der einzige Mensch, mit dem sie reden kann, ist Stan, den sie gerade erst kennengelernt hat; er ist gehörlos und versucht ihr die Gebärdensprache beizubringen. Sie schreiben sich, nebeneinander sitzend, WhatsApp Nachrichten und unterhalten sich auf diese Weise.
"Mariella Wenn du einen Wunsch frei hättest, was würdest du dir wünschen? Stan Drei freie Wünsche natürlich. Du bekommst aber nur einen. … Hören können vielleicht? … Untertitel bei dem, was ihr sagt, würden erstmal reichen."
Mariella mag Statistiken und merkwürdige Assoziationsketten und auch wenn es widersprüchlich klingt, sie liebt es, mit Sprache zu spielen.
"… komischerweise scheint das gesamte Gehirn aus irgendwelchen Lappen zu bestehen. Frontallappen, Temporallappen, Parietallappen, Großhirnlappen, Kleinhirnlappen. Rechte Gehirnlappenhälfte, linke Gehirnlappenhälfte. Ein Lappen zum Erinnern, zwei zum Vergessen …"„
Sie und Stan kommen sich näher, doch als die Mitschüler die Sache mit Stan herausfinden, eskaliert die Situation endgültig.
Institut für angewandtes Schweigen
Mit viel Humor erzählt Pope die Geschichte zweier Jugendlicher, deren Schweigen für ihre Mitmenschen eine Herausforderung ist. Aus sehr unterschiedlichen Gründen werden sie nicht verstanden. Neben den WhatsApp Chats nutzt Pope fiktive Interviews, in denen das Institut für angewandtes Schweigen (IfaS) Mariella befragt und sie sich auf diese Weise selbstironisch erklären kann (aus sich heraustritt.)
"IfaS: Mariella, Sie gelten als eine der international renommiertesten Expertinnen im Bereich der Wortlosigkeit. Wie kam es dazu? Ich: Wortlosigkeit ist prinzipiell der falsche Begriff. Ich gebrauche ja Wörter, eine Mehr-, Viel- und Unzahl sogar."
Hin und wieder beginnen sogar Gegenstände miteinander zu reden, um das Geschehen zu kommentieren.
Pope gelingt es, viel mehr als nur ein weiteres Buch über Mobbing zu schreiben. Die Quälereien der Mitschüler und das Wegschauen der Lehrer sind schwer auszuhalten. Aber die Zuneigung zu Stan und das Verständnis und die Nähe, die die beiden entwickeln, machen es nicht nur für Mariella, sondern auch für den Leser erträglicher. Es gibt kein wirkliches Happy-End, soviel sei verraten - ein Jugendbuch, das Anlass für Gespräche, auch in Schulen, geben kann.
(Iris Knappe)
Dirk Pope, *1969, 10 Jahre Kreativer in der Werbebranche, danach Deutsch- und Sportlehrer, sein zweites Buch "Abgefahren" war 2019 für den Deutschen Jugendliteraturpreis nominiert, lebt in Frankfurt/Main
Dirk Pope „Still!“
Carl Hanser Verlag 2020, 192 Seiten, 15 Euro
eBook 11,99 Euro
Ab 13 Jahren