Simon van der Geest
Krasshüpfer
"Der Krieg hat meinen ganzen Körper in Besitz genommen." Hidde, ein 11-jähriger Junge, führt in der Tat einen Krieg mit seinem Bruder. Er beschreibt diesen Machtkampf in allen Einzelheiten in seinem Tagebuch, das sich in direkter Ansprache an den Leser wendet. Aber das ist nicht die ganze Geschichte, es geht auch um die erste Verliebtheit und eine Leiche im Keller, die das ganze Leben der Familie verändert hat.
Insekten als Freunde
Hidde ist einsam, der große Bruder teilt ein wichtiges Geheimnis mit ihm, setzt ihn deshalb ständig unter Druck, quält seinen kleinen Bruder und bedroht sein geliebtes Insektenlabor. Die beiden haben vor drei Jahren einen Deal geschlossen, der jetzt auf der Kippe steht. Die Mutter ist anwesend abwesend, dennoch sagt Hidde von ihr:
"Ich betrachtete Mam. Sie hatte etwas von den Ohrwürmern, die gestern mit ihren Eiern hin und her gerannt waren. Ohrwürmer gehören zu den wenigen Insekten, die für ihre Larven sorgen und die Eier streng bewachen."
Mit Insekten ist er vertraut, es sind seine einzigen Freunde im geheimen Keller, mit ihnen lebt der Junge in einer Parallelwelt. Der Vater ist weg, der älteste Bruder gestorben und andere Freunde gibt es nicht. Und so wird der Leser zu Hiddes Vertrautem, ihn spricht er immer wieder direkt an.
Spitzname Spinnerling
Das Mädchen Lieke, in das er verliebt ist, scheint sich mehr für seinen Bruder, als für ihn zu interessieren, obwohl er rosa Schmetterlinge für sie züchtet. Sein erster Versuch, ihre Aufmerksamkeit zu wecken, hat zu seinem Spitznamen geführt: "Spinnerling" nennt ihn der Bruder immer wieder, um ihn zu kränken und vor anderen bloßzustellen. Der Spinnerling ist nämlich eine von ihm zusammengeklebte Kreuzung aus Weberknecht und Pfauenauge, Lieblingsschmetterling von Lieke und sein erstes Geschenk an sie. Sein geliebtes Insektenlabor soll Hidde an den Bruder abtreten, der seit kurzen in einer Band Schlagzeuger ist und den Keller als Übungsraum benötigt. Genug Konfliktpotenzial also für eine wirklich "krasse" Geschichte und ein Ende, das alles andere als süßlich ist und dennoch einen hoffnungsvollen Ausblick lässt.
Gottesanbeterin im Liegestuhl
Der Bauplan des "Spinnerling" findet sich als Illustration im Buch, dazu weitere Bilder von verschiedenen Insekten - mein persönlicher Favorit: die entspannt im Liegestuhl ein Glas Limonade schlürfende Gottesanbeterin Jackie Chan.
Dem Autor gelingt es, sich liebevoll und sensibel in das Denken und Fühlen eines elfjährigen Jungen zu versetzen und das konfliktreiche Verhältnis zu seiner Umwelt ungeschönt darzustellen. Die Zeichnungen betonen den eigenwilligen Charakter des Jungen. Und wer ihn selbst kennenlernen will: Auf der letzten Seite ist er "porträtiert" – natürlich als langbeiniges und geflügeltes Insekt!
Goldener Griffel
Es ist das zweite Buch von Simon van der Geest, das ins Deutsche übersetzt wurde und auch das zweite, das mit dem wichtigsten niederländischen Jugendliteraturpreis, dem Goldenen Griffel, ausgezeichnet wurde. Es steht auf der Empfehlungsliste "Die 7 besten Bücher für junge Leser" im Mai 2016.
(Iris Knappe)
Simon van der Geest *1978 in Gouda, niederländischer Theaterdozent und Kinderbuchautor
Simon van der Geest "Krasshüpfer"
Verlagsempfehlung: ab 11 Jahren
"Spinder" übersetzt aus dem Niederländischen von Mirjam Pressler
Illustrationen von Karst-Janneke Rogaar
Thienemann-Esslinger 2016, 238 Seiten, 12,99 Euro