Jan De Leeuw
Eisvogelsommer
"An kalten Winterabenden, wenn wir alle nah ums Feuer saßen, erzählte er oft vom Eisvogel, einem riesigen Vogel, größer als ein Dorf, der im grimmigen Norden lebte, sich aber manchmal in die bewohnte Welt aufmachte."
Sagenhafter Eisvogel
Es ist der Großvater, der in Thomas' Familie vom sagenhaften Eisvogel erzählt, der sich immer dann zeigt, wenn ein Mensch dem Tod nahe ist. Thomas ist tot. Die Leser lernen ihn kennen, als er seine Freundin Orphee beobachtet. Sie versucht alle Erinnerungen an ihn loszuwerden und verbrennt Fotos und CDs, die er für sie aufgenommen hat.
Ein Toter erzählt
Erzählt wird aus Thomas' Perspektive. Er begleitet diejenigen durchs Leben, die ihn geliebt haben, die Eltern, den Großvater und seine Freundin; sie scheinen sich gegenseitig nicht loslassen zu können.
Thomas wollte Schriftsteller werden, vor allem die Geschichten seines Großvaters haben ihn inspiriert. Mit ihrer Hilfe versucht er die Familiengeheimnisse zu ergründen:
"Mein Großvater ist eine Spinne. Er lebt in einem unsichtbaren Netz aus Worten. Er wartet. Wer so dumm ist, mal bei ihm vorbeizuschauen, ist verloren. Wenn er merkt, dass sich die Beute achtlos an den Küchentisch gesetzt hat, lässt er seine Worte los. ... Seine Worte wickeln einen ein, sodass man wie gelähmt an seinen Lippen klebt, bis er das letzte bisschen Aufmerksamkeit aus einem herausgesaugt hat. ... Die Leute befürchten, dass der alte Mann ihnen ihren Nachmittag wegfuttert."
Die Mutter schickte ihn immer wieder zum Großvater, um ihm Essen zu bringen. Sie selbst hat den Kontakt vor Jahren abgebrochen, gibt dem eigenen Vater sogar die Schuld am Tod ihres Sohnes und baut eine Art Museum in Thomas' Zimmer, in das sie sich zunehmend zurückzieht - in eine Parallelwelt mit ihm.
Langer Abschied
Orphee, die sich zuerst kaum auf Thomas einlassen konnte, tut sich besonders schwer mit dem Abschied. Sie tritt im Verlauf des Romans immer wieder in den direkten Dialog mit ihm.
"Das hier ist das letzte Bild von dir. Es ist genug", sagt Orphee am Ende des Romans. "So leicht kommst du mir nicht los", antwortet Thomas daraufhin.
Der Roman erzählt vom unbeschwerten Kennenlernen der beiden auf einem Rummel, von heimlichen Treffen, weil Orphees Eltern die Tochter nicht loslassen können, bis zur ihrer endgültigen Befreiung vom Schatten des toten Freundes.
Ungewöhnliche Sprache
Ein schwieriges und zugleich ein großartiges Buch, das der flämischen Autor und Psychologe Jan de Leeuw über den Prozess des Trauerns geschrieben hat. Das mühsame Loslassen wird aber nicht nur psychologisch subtil beschrieben, sondern, wie auch die Liebe, in ungewöhnlicher Sprache und beeindruckenden Bildern erzählt. Thomas' erinnert sich zum Beispiel an das Zusammensein mit Orphee
"… aber seit ich deine Augen nicht mehr sehe ... bin ich plötzlich allein in meinem Körper, mit meinen dunklen Gedanken, nein, es sind keine Gedanken mehr, denn wie Sätze zu Wörtern zerbröseln, so verliere ich meinen Verstand, je näher ich dir komme, meine Sinneswerkzeuge ...rasen wie ein Suchlicht durch meinen Körper."
Schatten der Vergangenheit
Tod und Sterben sind ein Thema, an das sich de Leeuw bereits 2010 mit "Schrödinger, Dr. Linda und eine Leiche im Kühlhaus" (Nominierung für den Deutschen Jugendliteraturpreis 2011) mit wunderbar schwarzem Humor gewagt hat. Im Roman "Eisvogelsommer" geht er auch formal einen Schritt weiter. Er lässt einen Toten erzählen und die Freundin in den kursiv gesetzten Abschnitten antworten. Die Erzählperspektive und die zahlreichen Rückblicke auf die Familiengeschichte bis in die Generation der Urgroßeltern, die ihre Schatten noch in die Gegenwart werfen, machen das Lesen nicht immer leicht; aber es entsteht ein Sog, dem man sich nicht entziehen kann - auch wenn man relativ schnell ahnt, wie Thomas gestorben ist.
(Iris Knappe)
Jan de Leeuw *1968 in Aalst/Belgien, wurde bereits vielfach ausgezeichnet; für "Eisvogelsommer" erhielt er u.a. den Luchs des Monats April 2016, von Radio Bremen und der ZEIT vergeben; außerdem stand der Roman auf der Deutschlandfunk Bestenliste.
Jan De Leeuw "Eisvogelsommer"
Altersempfehlung: ab 15 Jahren
"Vijftien wilde zomers" aus dem Niederländischen übersetzt von Rolf Endorf
Gerstenberg 2016, 256 Seiten, 16,95 €