Dennis Lehane
Sekunden der Gnade
„Sie sind arm, weil es nur ein bestimmtes Maß an Glück auf der Welt gibt und sie nie etwas abbekommen haben. Wenn es nicht vom Himmel fällt und auf dir landet, dich nicht findet, wenn es morgens aufwacht und schaut, an wen es sich hängen kann, stehst du da. Es gibt weit mehr Menschen auf der Welt als Glück…“
Jagd auf einen Schwarzen
Mary Pat Fennessy ist arm, schuftet in zwei Jobs, ihr Sohn starb an einer Überdosis, nachdem er aus Vietnam zurückkehrte, und ihre Tochter Jules ist alles Glück, was ihr geblieben ist. Als Jules plötzlich verschwindet, muss sie erleben, dass ihr die irische Gemeinschaft im Southie-Viertel Bostons mit Schweigen begegnet, vor allem die heimlichen Clan-Herrscher im Stadtteil. Hängt das Verschwinden ihrer Tochter mit den Protesten gegen die Aufhebung der Rassentrennung zusammen? Und welche Jugendlichen irischer Herkunft jagten den schwarzen Teenager Auggie Williamson auf die Gleise des Bahnhofs, wo er starb? Sie muss erfahren: „Tut mir leid, Mary Pat, aber du weißt, es gibt hier einen Kodex. Nach dem leben wir und sterben wir.“ Und Schweigezonen im Mikrokosmos gehören dazu.
Protest gegen Rassismus
Dennis Lehanes Roman führt zurück ins Jahr 1974, als man mit dem sogenannten ‚Busing‘ schwarze Kinder in die Schulen bringen wollte, wo bisher nur weiße Kinder unterrichtet wurden, und die Kinder der überwiegend irischen Einwanderer sollten dafür auch in Schulen z.B. in Roxbury gebracht werden, einem Stadtteil mit überwiegend schwarzer Bevölkerung. Die Proteste dagegen gipfelten in Gewalt und Attacken gegen die verantwortlichen Politiker, denn die aufgebrachte Masse wusste sehr gut, dass die Reichen ihre Kinder ohnehin auf Privatschulen schickten. Rassismus war ist ein willkommenes Mittel, um zu spalten, zu hetzen und den Ärmsten das Gefühl von Überlegenheit zu geben. Im Interview des Verlags stellt der Autor Dennis Lehane, der in selbst South Boston aufwuchs, klar, dass es auch in seinem 14. Roman genau darum geht:
„Rassismus ist ein widerwärtiges, krebsartiges Vorurteil, das von den Eltern an die Kinder weitergegeben wird. Eine Seuche, die demjenigen, der sie in sich trägt - und seinen Nachkommen -, ebenso viel Schaden zufügt wie seinen Opfern.“
Weg in die Hölle
Seine Protagonistin Mary Pat Fennessy erinnert sich gern an den freundlichen und mitfühlenden Brief ihrer Kollegin im Krankenhaus, Calliope Williamson, als ihr Sohn Noel begraben wurde. Zugleich scheint ihr Freundschaft nicht möglich: „Weiße Southieweiber sind nicht mit schwarzen Frauen aus Mattapan befreundet. So läuft die Welt nicht.“ Doch als ihre Tochter auch nach vier Tagen nicht wieder aufgetaucht ist und ihr klar wird, dass die Butler-Familie die Drogen ins Stadtviertel brachte und die eigenen Leute damit umbringt, ihren Mann und ihren Sohn, und über das Verschwinden von Jules hartnäckig schweigt, beginnt sie einen Rachefeldzug, der den Erinnyen der griechischen Mythologie würdig ist. Eine sympathische Heldin ist Mary Pat nicht, doch Dennis Lehane sorgt dafür, dass wir sie mit tiefem Verständnis begleiten, auf ihrem Weg in eine immer tiefere Hölle aus Clanloyalität und Rassismus - so läuft die Welt:
„Griff einer oder eine sie an, ist sie auf alle losgegangen, immer schon, ob jemand sie an den Haaren zog oder ihr ein Ohr oder eine Brustwarze verdrehte, sie anschrie oder anschnauzte, sie mit einem Gürtel oder einem Schuh schlug. Auf jeden, der ihr jemals das Gefühl gegeben hatte, ein verängstigtes kleines Mädchen zu sein, das nicht wusste, in was für ein Höllenfeuer sie hineingeboren worden war.“
Verschwiegene Hinterhalte
Mit Detective Sergeant Bobby Coyne stellt der Autor dem Hass und der Gewalt einen differenzierten und aufgeklärten Polizisten gegenüber. Der Vietnam-Veteran ermittelt im Fall des Todes des schwarzen Jungen und kennt sich in der irischen Community gut genug aus, um die Lügen und verschwiegenen Hinterhalte entziffern zu können. Er muss zugleich die Grenzen polizeilichen Handelns akzeptieren, etwa wenn sein neunjähriger Sohn zur Zielscheibe wird. Er weiß, dass seine eingewanderten Iren in diesen armen Stadtvierteln die freundlichsten, hilfsbereitesten Menschen sind - bis sie es eben nicht mehr sind. An diesen Umschlagmomenten setzt Lehane an, charakterisiert die Männer mit dem ‚Apokalypseblick‘ und die Frauen mit den ‚Haaren auf den Zähnen‘ mit genauem Blick auf die Verhältnisse, in denen sie leben, sich abschotten, sich ducken, und Stärkeren gehorchen. „Jemanden umbringen ist wie Schneeschaufeln – ich mach’s nicht gern, aber es muss getan werden, also wird’s gemacht.“
Schwer zu ertragen
Von politischer Korrektheit war in diesen Jahren nicht die Rede, und Lehane bringt den Geist dieser Zeit in seinen Dialogen auf den schmerzhaftesten Punkt. Um die Wahrheit herauszufinden, muss Mary Pat Hennessy alles aufs Spiel setzen, was sie zuvor nie in Frage gestellt hat. Vergebung gibt es in diesem heißen Sommer 1974 nicht, wohl aber erhellende, schwer zu ertragende Einblicke in Bostons Geschichte. Ganz zu Beginn, als Mary Pat noch mit ihrer Tochter für die rassistische Kundgebung agitiert, fragt Jules sie: „Fragst du dich manchmal, ob es auch etwas anderes gibt?“
(Lore Kleinert)
Dennis Lehane, *1965 in Massachusetts/USA, unterrichtet Creative Writing u.a. in Harvard, seine verfilmten Bücher ›Mystic River‹ und ›Shutter Island‹ sind Weltbestseller, lebt in Kalifornien und Boston.
Dennis Lehane „Sekunden der Gnade“
aus dem amerikanischen Englisch von Malte Krutzsch
Roman, Diogenes Verlag 2023, 407 Seiten, 25 Euro
eBook 22,99 Euro