James Sallis
Willnot
Der Roman beginnt mit der Entdeckung etlicher Leichen, die in der Nähe einer Kiesgrube verscharrt wurden. Dr. Lamar Hale, Arzt in Willnot und Erzähler dieser Geschichte, wird dazugerufen – und das war es dann schon.
Abgründe
Wer einen Thriller oder die Aufklärung des Verbrechens erwartet, hat sich getäuscht, und auch das Auftauchen des früheren Patienten von Dr. Hale Bobby Lowndes, der vom FBI gesucht wird, trägt nichts zur Aufklärung bei. James Sallis geht es um etwas ganz anderes:
"Der Abgrund über uns, der Abgrund unter uns. Mit lediglich Kriechzwischenräumen, um Erleichterung zu finden. Um da zu sein.“
Keine Kriminalgeschichte also, sondern die Überlegungen und Beobachtungen eines älteren Arztes, der uns in sein Leben in der Kleinstadt hineinzieht. Er macht Hausbesuche und operiert, sein Freund und Lebensgefährte Richard ist Lehrer, ein humorvoller Mann, der gern kocht und Tiere rettet. Die Gespräche der beiden Männer reflektieren die Vergangenheit ebenso wie das, was das Leben ausmacht, stört oder auch – vielleicht – bereichert.
Alltäglich-friedlich
Gerade diese Betrachtung alltäglich-friedlichen Lebens lässt eine Ahnung von dem aufkommen, was, wie in Filmen von David Lynch, unter der dünnen Schicht der Zivilisation verborgen liegen könnte: Etwas wird passieren - "Twin Peaks" lässt grüßen. Lamars Vater war Science Fiction-Autor und mit der Sphäre des Fantastischen vertraut, und der Erzähler selbst fiel als Jugendlicher lange in eine Art Wachkoma, das ihn dünnhäutiger und empfänglicher für Unterströmungen werden ließ:
"Ich lebte mit einem Doppelblick: Hier und nicht hier, ich und nicht-ich, ich und andere. Ich lebte, ging schlief und träumte in multiplen Welten.
Sallis baut seine Sätze wie Jazz-Phrasen auf, mit großartigem Gefühl für wiederkehrende Motive und Bilder und die diskrete Magie des kleinstädtischen Lebens in der amerikanischen Provinz mit ihren vernarbten Landschaften und Häusern.
Schüsse aus dem Dunkel
Ihm, ebenso wie seinem Erzähler Lamar, geht es darum, nicht zu vereinfachen und nicht vorschnell zu Urteilen zu kommen, und er gewährt seinen Personen viel Raum:
"Wir sorgen uns um ein paar ausgewählte Stränge eines individuellen Lebens, ein Dutzend dominanter Merkmale, und benutzen diese, um ein Porträt zu erstellen. Während wir alle eine brodelnde Masse an Widersprüchen sind. Und an Überraschungen."
Auch die überraschenden Wendungen, das Verschwinden und Wiederauftauchen des Kriegsveterans Bobby Lowndes, die Schüsse aus dem Dunkel - all das ist eingebunden in Dr. Lamar Hales Durchlässigkeit für Vergangenheit und Zukunft, und sein gelassenes Vorangehen ist sich auch der eigenen Schwächen immer bewusst. Ebenso kennt er durchaus die politischen Verhältnisse im Rest des Landes:
"Gruppen jedweder Art, religiös, regional, politisch oder brüderschaftlich, schlugen weiter die Stammestrommeln, scharten nach wie vor all diejenigen um sich, die an dasselbe glaubten, dasselbe fühlten und sich auf dieselbe Art und Weise kleideten."
Große Fragen
Sind die Mörder der aufgefundenen Menschen unter ihnen? Oder ist Willnot doch kein Hort aufgeklärten Denkens und empathischen Miteinanders? Was ein gutes Leben ausmacht, ist jedenfalls eine Auseinandersetzung, die sich fast beiläufig durch den Roman zieht und den Autor ebenso wie seine Geschöpfe interessiert. James Sallis erweist sich hier als Philosoph unter den Krimiautoren, ohne dass die großen Fragen auf Kosten der Spannung aufgeworfen werden. "Vermissen wir etwas? Ich bin sicher, ja. Aber das ist der Grund, warum wir lesen, oder? Warum wir Beziehungen zu anderen Menschen aufbauen. Um ein Gefühl für jene Leben zu bekommen, die wir selbst nicht haben können." /em>
(Lore Kleinert)
James Sallis, *1944 in Arkansas/USA, Literaturwissenschafter, Lektor, Drehbuchautor und Übersetzer, Autor der Romanreihe um den farbigen Privatdetektiv Lew Griffin, lebt in Phoenix, Arizona.
James Sallis "Willnot"
aus dem Englischen von Jürgen Bürger und Kathrin Bielfeldt Roman, Liebeskind 2019, 224 Seiten, 20 Euro
eBook 14,99 Euro