Andreas Kollender
Kolbe
"Bitte verzeihen Sie, ich rede die ganze Zeit über jemanden, der ich nie sein wollte", sagt ein Mann zu zwei Journalisten, die ihn, irgendwo in der Schweiz, wenige Jahre nach Ende des zweiten Weltkriegs, besuchen. Als der Krieg 1939 begann, war Fritz Kolbe Vizekonsul am deutschen Konsulat in Kapstadt.
Ein vergessener Held
Auf Drängen seines Konsuls kehrt der Witwer ohne seine Tochter nach Deutschland zurück, eine Entscheidung, die ihm schwer fällt und die er immer wieder bereut. " Die Jahre vor dem ersten Auftauchen der Geheimakten erscheinen ihm dumpf und grau, leer und er weiß sich nicht einzuordnen. Im Nachhinein betrachtet weiß er nicht, was er in dieser Zeit getan hat. Er will es nicht wissen…Ich wollte nie ein Held sein, sagt er. Es ist mir wichtig, dass Sie das wissen."
Doch Fritz Kolbe wurde ein Held, denn er wollte etwas tun, und die Geheimakten des Auswärtigen Amtes boten ihm die Gelegenheit dazu. In der Liste deutscher Widerstandskämpfer taucht er nicht auf, und erst 2005 benannte Außenminister Joschka Fischer einen Saal nach ihm, denn in Frankreich war eine Biografie erschienen, die auch für diesen Roman die Fakten liefert.
Logik des Tötens
Andreas Kollender ließ sich davon inspirieren und macht aus dem Mann, der mit seinem Wissen dem späteren CIA-Chef Allen Dulles während des Krieges zu Ruhm verhalf, einen Mann aus Fleisch und Blut, mit Selbstzweifeln und Leidensfähigkeit, nicht sehr groß, aber uneitel und entschlossen, sich nicht unterkriegen zu lassen. Er erfährt vom Judenmord und Massenmord, erlebt Lüge, Erniedrigung und die Logik des Tötens und Vernichtens, bis er 1943 auf eine Dienstreise nach Bern geheime Akten mitnimmt. Auf seine fast naive Weise kann er die Amerikaner überzeugen, dass er kein Doppelagent ist – und wird zu ihrem wichtigsten Agenten.
Mit Liebe gegen den Krieg
Kollender bettet Kolbes lebensgefährliche Risiken in die Liebesgeschichte ein, die ihn mit Marlene, einer schönen, verheirateten Frau verbindet und beide in höchste Gefahr bringt:
"Fakt ist, dass wir verliebt waren. Dass wir begehrten. Das ist kein Privileg der Jugend. Wir sind übereinander hergefallen. Wir haben dem Krieg und der Vernichtung und der Angst Liebesakte entgegengestellt."
Sehr anschaulich erfährt man, wie das Doppelleben der beiden im zerbombten Berlin zu ertragen war, und wie die Spionage, der Verrat tiefer in Kolbe hineinwächst als er wahrhaben will. Der Krieg geht immer weiter, und Kolbes Hoffnung, Hitler werde in seinem Hauptquartier, dessen Lageplan er geliefert hat, ausgelöscht, erfüllt sich nicht. Auch seine Ungeduld, seine tiefen Zweifel kommen zur Sprache und runden das Bild eines Anständigen, der eigentlich nur wieder normal leben will, ab.
Manchmal fehlt der Sinn
Gerade das aber wird es nicht mehr geben: nach dem Krieg sickern alte Nazis, z.B. General Gehlen, den er kannte, in die Schlüsselstellen der jungen Bundesrepublik ein, und Männern wie Eichmann, dessen Taten er als erster den Alliierten kundtat, gelingt die Flucht. Kolbe sieht sich in Gefahr – und macht Fehler. Er gilt als Verräter und muss erleben, dass man auch für das Richtige, was man tut, einen hohen Preis bezahlt.
"Wissen Sie, in Romanen und Theaterstücken, da ergibt irgendwie immer alles einen Sinn. Im Leben ist das nicht so. Da wird nicht alles abgestimmt, das schließen sich nicht alle Kreise…In Romanen kommt Schuld irgendwann zum Schuldigen zurück. Im Leben? Manchmal, aber weiß Gott nicht immer."
Eine große Geschichte
Zwar klaffen die Passagen, in denen er interviewt wird und die, in denen man seine Geschichte unmittelbar miterlebt, mitunter auseinander und führen zu unnötigen Widersprüchen. Doch die Geschichte dieses ungewöhnlichen Deutschen ist, wie es bei Shakespeares Macbeth heißt, "ein Märchen voller Klang und Wut", das unbedingt erzählt werden musste – eine große Geschichte.
(Lore Kleinert)
Andreas Kollender *1964 in Duisburg, lebt als freier Autor in Hamburg
Andreas Kollender "Kolbe"
Pendragon 2015, 448 Seiten, 16.99 Euro
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