Till Raether
Blutapfel
Hauptkommissar Adam Danowski ist seit dem Höllentrip seines letzten Falles psychisch angeschlagen. Sein Kollege Finzi sitzt im Pflegeheim und reagiert nicht, seine neue Partnerin Jurkschat, zuverlässig und konstruktiv, geht ihm auf die Nerven, seine Frau will Karriere machen und aufs Land ziehen, und der verordnete Meditationskurs beschleunigt sein unablässig kreisendes Gedankenkarussel eher noch:
Ein Schuss im Elbtunnel
"…und überhaupt musste Danowski im Meditationskurs besser aufpassen und sich häufiger mal an seinen guten Ort beamen und sich rausziehen, er wurde von Tag zu Tag mehr zum Kitschonkel, fand er selber, und dass er sich ständig Parallelwelt-Leben mit anderen Frauen ausmalte, musste auch demnächst aufhören."
Doch dann fällt ein Schuss im Elbtunnel, ein Mann, der sich hingebungsvoll um seine Nachbarn in "Hainapfel" kümmerte, ist tot. War es eine Verwechslung? Oder Zufall? Danowski, von seinen Kollegen als unberechenbar abgelehnt, muss in der tristen Neubausiedlung am Stadtrand von Hamburg ermitteln. Die Spur, die auf das organisierte Verbrechen verweist und von den ehrgeizigeren Kollegen verfolgt wird, führt ins Leere, und wie Till Raether die Irrtümer und Anmaßungen, die kleinen Eifersüchteleien und großen Pannen beschreibt, ist sehr spannend und immer auch ausgesprochen komisch.
Heimweh nach Berlin
Der Elbtunnel mit seinen Dauerstaus wird zur Hauptachse der Ermittlung, denn die kleine Siedlung mit den Streuobstwiesen am Rand der Fischbeker Heide ist der Ort, von dem aus die Beamten den Zugang zur Lösung finden können. Das scheinbar so harmlose Mordopfer im Häuschen am Stadtrand war bestens vernetzt und beobachtete seine Nachbarn.
Allmählich geben seine Computer ihre Geheimnisse preis, dank Anita Baxmann von der Abteilung Cyberkriminalität, eine älteren Kollegin Danowskis,
"die aussah, als wäre sie vor dreissig Jahren jedenfalls nicht wegen ihrer Frisur beim Casting für 'Drei Damen am Grill' gescheitert";
die frechen Beobachtungen aus dem Blickwinkel des ungewöhnlichen Kommissars, der sein Heimweh nach Berlin hingebungsvoll pflegt, gehören zu den großen Stärken des Krimis. Auch der amerikanische Geheimdienst und eine Folterspezialistin spielen eine Rolle, die bis zum Schluss schwer zu durchschauen ist, aber für zusätzliche Spannung sorgt, zumal Danowskis Freund und Kollege Finzi aus seiner Sprachlosigkeit erwacht und offenbar selbst verfolgt wird.
Hamburgs Untergrund
Und schließlich entdecken die Ermittler die "Verlassene-Orte-Szene", den Untergrund Hamburgs, der eine große Anziehung auf sonderbare Menschen ausübt: Sie treffen sich dort, wetteifern um die waghalsigsten Entdeckungen und hinterlassen ihre Zeichen, - großartig beschrieben und vom Autor phantasievoll ausgeleuchtet. Die Leser entdecken mit diesem Kriminalroman zugleich eine Stadt unter der Stadt und eine Szene, die den meisten völlig neu sein dürfte. Eine Herausforderung für den dünnhäutigen Adam Danowski, der immer häufiger den Rand seiner Belastbarkeit erreicht,
"ein konturloses, zwielichtiges Gebiet, notdürftig beleuchtet von der untergehenden Sonne seiner Lebensenergie und der flackernd anspringenden Notbeleuchtung von Jurkschats Rest Pappbecherkaffee und selbst verpasster Schläfenmassage."
Atemberaubendes Finale
Doch in Hamburgs vergessenen Fabrikanlagen und Lagerhäusern, den Gängen und Höhlen mit ihren verborgenen Einstiegen kommt der Kommissar nicht nur der Lösung des Falls näher, sondern auch seinen eigenen Ängsten, und in einem atemberaubenden Finale muss er lernen, sich auf sich selbst zu verlassen und die Fähigkeiten seiner Kollegen besser zu schätzen. Und erfahren, dass man Blutäpfel nicht essen kann.
(Lore Kleinert)
Till Raether *1969 in Koblenz, Journalist, lebt in Hamburg
Till Raether "Blutapfel"
Kriminalroman, Rowohlt polaris 2015, 480 Seiten, 14,99 Euro
eBook 12,99 Euro