Denise Mina
Die tote Stunde
"Du bist so furchtlos. Ich kenne wirklich niemanden, der so ist wie du." Was ihr Freund Dub über sie denkt, droht der Polizeireporterin der "Scottish Daily News" Paddy Meehan abhanden zu kommen, als sie einen Fünfzig-Pfundschein annimmt, 1984 sehr viel Geld.
Zeugin eines Verbrechens
Der Mann an der Haustür einer noblen Villa will verhindern, dass über die blutverschmierte Frau im Flur berichtet wird, und die Frau selbst will sich nicht helfen lassen. Scheinbar ein gewalttätiger Ehestreit, doch dann wird sie ermordet aufgefunden, und Paddy weiß, dass sie Zeugin eines Verbrechen war – und muss handeln. Warum nutzte die Frau nicht die Chance zu entkommen?
"Die kleine Paddy, die in einer katholischen Familie aufwuchs, ohne an Gott zu glauben, suchte nach Vorbildern, und so kam es, dass sie irgendwie das Neue Testament durch Paddy Meehans Geschichte ersetzte.
So ungewöhnlich war das gar nicht, wie sie später erkannte: viele Katholiken wurden Marxisten, einfach weil die mentale Struktur so perfekt passte … Paddy war von der Meehan-Geschichte förmlich besessen gewesen. Sie sah darin Tapferkeit und Würde, Edelmut und Durchhaltevermögen, Anstand und Loyalität."
Lust auf Schokolade
Paddy Meehans Vorbild, der Kommunist und Berufsverbrecher mit dem gleichen Namen wie sie, soll Held eines Buches werden, das sie schreiben will. Doch er hat seine beste Zeit längst hinter sich, und die junge Reporterin, die immer die Nachtschichten übernimmt und als einzige in ihrer Familie Geld nach Hause bringt, wird immer tiefer in den Fall um die erschlagene Staatsanwältin, die gar nicht verheiratet war, hineingezogen, als sie den blutigen Geldschein als Beweisstück im Polizeirevier deponiert. Ihr neuer Chef traut ihr etwas zu, denn sie ist zäh, lässt sich nicht bluffen, eine Frau, die nicht vergisst, dass sie aus Glasgows Arbeiterklasse kommt. Ihren rundlichen Körper, Zielscheibe bösartiger Witze, umhüllt sie mit einem grünen Secondhand-Ledermantel – und kontert mit schlagfertigem Witz.
"Alle nahmen mit der F-Plan-Diät ab, nur sie träumte von reichlich Zuckerguss auf klebrigen Rosinenschnecken und Schokolade und sog die Kalorien förmlich in sich hinein. Seit Monaten hatte sie nichts mehr zu sich genommen, ohne ein schlechtes Gewissen zu haben. Warum war sie nicht dünn auf die Welt gekommen wie MaryAnn?"
Hinter den Kulissen
Ihre Schwester MaryAnn wird sich für das Kloster entscheiden, Paddy hingegen, mit unstillbarem Appetit, lässt sich mit dem gutaussehenden Polizisten und Comedy-Talent Burns ein - eher zwiespältig, aber mit Verve. Mit ihr hat Denise Mina eine Hauptfigur erschaffen, mit der man hinter die Kulissen der schottischen Metropole Glasgow schaut, in die Redaktionsräume der Achtziger Jahre, und die sich von den Vertuschungsstrategien der Reichen und Schönen nicht beeindrucken lässt.
Zur gleichen Zeit streift eine zweite Frau durch die Stadt, die Schwester des Mordopfers, die ein dickes Paket Kokain mit sich schleppt. Kate ist aus reichem Hause und vom wilden Partyleben so fertig, dass sie nur noch ihr Fluchtinstinkt und die Droge aufrechterhalten.
"Der erste Löffel nahm der Welt die Schärfe und setzte ihr Herz neu in Gang, so dass sie es schlagen hörte, nur ihr Herz, nichts anderes. Der zweite Löffel brachte den Rausch und erweckte die Geräusche und Farben der Welt wieder zum Leben, aber sie zögerte kurz zwischen der Kälte des tiefen Wassers und der Hitze des trockenen Ufers, sah sich selbst nur noch im Hier und Jetzt. Das reichte ihr… Ihr Gehirn rutschte aus der Verankerung, glitt zur Seite und prallte gegen die Schädelwand."
Skurrile Details
Alle Frauen in Denise Minas zweitem Roman um die Gerichtsreporterin Paddy bleiben nicht, was sie zunächst zu sein scheinen, und der Weg der jungen Frau heraus aus den unerquicklichen und engen Rollen, die ihr in der Familie und im Job zugewiesen sind, erweist sich als spannender als der Fall selbst. Auch die Verstrickungen von Presse und Polizei malt die Autorin farbenfroh und kenntnisreich aus, mit Blick für skurrile Details und gesellschaftliche Schranken. Immer, wenn man glaubt zu wissen, wie es laufen wird, ergeben sich Schwenks und neue Perspektiven, und das macht "Die tote Stunde" zu einem erstklassigen Krimivergnügen. Der dritte Band dieser Serie der schottischen Krimiautorin wird hoffentlich folgen, ich kann es kaum erwarten!
(Lore Kleinert)
Denise Mina *1966 in Glasgow, Juristin, schottische Krimiautorin
Denise Mina "Die tote Stunde"
"The Dead Hour" übersetzt von Heike Schlatterer
Kriminalroman, Wilhelm Heyne Verlag 2016, TB, 448 Seiten, 9,99 Euro
eBook 8,99 Euro
Weitere Buchtipps zu Denise Mina
"Götter und Tiere"
"Blut Salz Wasser"