Kate Summerscale
Der Verdacht des Mr Whicher
Millionen Leser überall auf der Welt lieben Kriminalromane. Keine Buchhandlung, die Umsatz machen will, kommt ohne sie aus. Krimis sind die modernen Märchen, in denen die schlimmsten Verbrechen geschehen, und doch wird am Ende der Schuldige gefasst und alles geht gerade nochmal gut aus.
Wir Leser können aufatmen. Das Märchen, den Krimi, die Geschichte vom Guten, das das Böse besiegt, brauchen wir für unser psychisches Gleichgewicht. Das scheint ein altes Menschheitsthema zu sein. Schon die Bibel ist voller Verbrechen, voller Straf- und Sühnegeschichten.
Das viktorianische Zeitalter im "Entdeckungsfieber"
Der moderne Kriminalroman wurde um die Mitte des 19. Jahrhunderts in England erfunden. Typischer Vertreter dieses 'neuen' alten Genres war Wilkie Collins, dessen "Frau in Weiss" z.B. jedem Krimileser ein Begriff ist. Collins war ein guter Freund von Charles Dickens, der mehrere Zeitschriften herausgab, in denen Autoren ihre Romane in Fortsetzungen veröffentlichten. Collins und Dickens und ihre schreibenden Zeitgenossen bedienten sich bei der Gestaltung ihrer Romanplots durchaus gern der Geschichten, die das Leben schrieb und die tagtäglich in der Zeitung standen: denn für grausige Verbrechen und deren (psychologische) Hintergründe hatte das Zeitalter der Queen Victoria durchaus etwas übrig.
Morde und andere Kapitalverbrechen wurden in der Presse breit geschildert, und die Leserschaft beteiligte sich aktiv mit eigenen Beiträgen und Theorien an der Aufklärung dieser Taten. Ein detektivisches 'Entdeckungsfieber' breitete sich in der Bevölkerung aus, wenn es galt, solche Rätsel zu lösen: Was war das Motiv? Wer war der Mörder? War Wahnsinn im Spiel?
Grausamer Kindsmord
Ein Verbrechen, das die Phantasie der Menschen im 19. Jahrhundert besonders beflügelte, schildert Kate Summerscale in ihrem Buch "Der Verdacht des Mr Whicher". Ein dreijähriger Junge, der kleine Saville Kent, wurde auf grausame Weise umgebracht: erstickt, die Kehle durchgeschnitten und im Abort versenkt. Verdächtig ist jeder in der Familie: der ? einigermassen wohlhabende ? Hausherr und Vater Samuel Kent; seine vier Kinder aus erster Ehe; das Kindermädchen, in dessen Zimmer der Kleine schlief; die Hausangestellten.
Offene Fragen
Dass es jemand unmittelbar aus dem Hause der Familie gewesen sein musste, wird schnell klar; ein quasi 'durchreisender' Mörder kommt nicht in Frage. Der Ortspolizist ist bald überfordert mit der Aufklärung, es wird ein Ermittler von Scotland Yard hinzugezogen: Der fähige, renommierte Mr. Whicher beginnt seine Nachforschungen. Und doch wird dieses Verbrechen niemals bis ins letzte aufgeklärt; es bleiben Fragen (deren Beantwortung heute ? im Zeitalter der DNA-Analyse ? kein Problem wäre).
Spannende Dokumentation
Summerscale erzählt dieses gut dokumentierte Verbrechen und die Geschichte seiner Aufklärung in epischer Breite wie einen viktorianischen Kriminalroman. Sie bindet ihre Story ein in die Entstehungsgeschichte des Krimis (an der neben den bereits erwähnten Collins und Dickens auch E.A.Poe beteiligt war, Henry James, Sir Arthur Conan Doyle u.v.a.) und die Rezeptionsgeschichte des Verbrechens in der Bevölkerung. Dabei findet sie interessante Details heraus, wie z.B., dass polizeiliche Ermittler als unangenehme Schnüffler angesehen wurden.
Gut recherchiert
Ein Kriminalpolizist hatte das Image eines schmierigen Eindringlings in private Angelegenheiten und besaß daher kein gesellschaftliches Ansehen ? zumal, wenn er sich überdies noch aus einer unteren Gesellschaftsschicht in der Polizei hochgearbeitet hatte wie jener Mr. Whicher. Von einem heutigen positiven Helden à la "Tatort" war er denkbar weit entfernt. So verbindet sich in Summerscales gut recherchiertem und informativem Buch englische Sozial- und Literaturgeschichte des 19. Jahrhunderts mit einer spannenden Verbrechensaufklärung.
(Gabi von Alemann)
Kate Summerscale *1965, engl. Journalistin und Schriftstellerin, lebt in London
Kate Summerscale "Der Verdacht des Mr Whicher"
Bloomsbury Verlag 2008, Berliner Taschenbuch Verlag 2010, 430 Seiten, 10,95 Euro,
eBook 7,49 Euro