Mary Paulson-Ellis
Die andere Mrs. Walker
Weihnachten 2010: Margaret Penny kehrt völlig abgebrannt aus London zurück in die scheußliche Wohnung ihrer Mutter. Hinter sich ließ die 47jährige Frau, die Schottland jung verließ, verbrannte Erde, und im Gepäck hat sie wenig mehr als Enttäuschung. „Ein Hang zur Kleptomanie. Entscheidungen über Leben und Tod per Münzwurf. Und dann war da noch ihre Fähigkeit, weiterzusaufen, wenn alle anderen genug hatten.“
Landschaft der Toten
Das graue, kalte Edinburgh bietet ihr zumindest die Aufgabe, nächste Verwandte einsam Verstorbener aufzufinden, für die die Polizei nicht zuständig ist, für sie eine Chance, in die Landschaft der Toten einzutauchen. Und den Regeln ihrer Mutter zu entfliehen – „Nicht herumschnüffeln. Die Nase nicht in Dinge stecken, die dich nichts angehen.“ Die Wahrheit über die tote Mrs. Walker muss sie aus wenigen Hinterlassenschaften entschlüsseln, einem Apostellöffel, Mandarinenkernen, einer Fuchsstola, Papierschnipseln mit Namen. „Eine Frau, deren Leben auf der Müllkippe gelandet war, jagte eine tote Person ohne erkennbare Vergangenheit.“ Mit großer Hartnäckigkeit verfolgt sie die spärlichen Fährten, die sie in die Hauptstadt zurückbringen, und der Roman blendet zurück in die 30er Jahre, die Zeit des Krieges in London, die harten Jahre danach.
Verschollene Schwestern
Die Autorin nimmt sich Zeit, aus verschiedenen Blickwinkeln das Leben dreier Schwestern zu beleuchten, deren Mutter in ein Asyl für Geisteskranke abgeschoben wurde. Clementine war die älteste, die irgendwann verschwand; als sie acht war, beginnt auch die Geschichte, denn die Zwillinge, die ihre Mutter bekam, kamen ums Leben. Die später geborenen Zwillinge Ruby und Barbara hätten nicht unterschiedlicher sein können, schön und beherzt die eine, unscheinbar und schüchtern die andere, die sich danach sehnte, von ihrer Schwester wahrgenommen zu werden. Mord und Missbrauch, Alkoholismus, Diebstahl und Gewalt durch besonders widerwärtige Wegbegleiter erinnern an Charles Dickens düsterste Geschichten: Mrs. Penny, Hebamme und Spezialistin für Prostitution und Abtreibung bemächtigt sich der Mädchen, und schon die Namen verweisen darauf, dass sich die Schicksale der verschollenen Schwestern mit Margaret Pennys Leben und dem ihrer mürrischen Mutter Barbara verknüpfen werden.
Falsche Fährten
Der Anwalt Mr. Nye war nicht nur Testamentsvollstrecker, sondern in perfider Weise daran beteiligt, die Wahrheit verschwinden zu lassen, „in einem Nichts, einer Lücke zwischen Zeit und Raum“, und auch ihm muss Margaret Penny auf die Spur kommen. Zufälle, falsche Fährten und hilfreiche Hinweise bilden ein kompliziertes Puzzle, das sie vor immer neue Herausforderungen stellt und stets nur kleine Teile eines Bildes preisgibt.
„Doch es gab eine Adresse. Ein Altersheim am Stadtrand von London, für seine Bewohner ein letzter Außenposten vor der Gewissheit des Todes. Und auch einen Namen. Dorothea Walker. Eine neue Person, die ihren Kopf hob, um Margaret aus den Schatten der Vergangenheit anzublicken.“
Mit besonderem Augenmerk auf den Überlebenskampf von Frauen gewinnen die Familiengeheimnisse der Walkers und der Pennys allmählich Kontur. Es gelingt der Autorin, überzeugende Charaktere in ausgefeiltem Zeitkolorit gespenstisch lebendig werden zu lassen, in den vergangenen Zeiten ebenso wie in Margarets beharrlicher Suche. Des Hinweises ihrer Auftraggeberin, die Vergangenheit sei ein ‚gefährliches Land‘, bedarf es dabei kaum mehr, denn das Elend junger Frauen im England der Kriegs- und Nachkriegszeit rückt greifbar nahe, ebenso wie ihre Träume und Kraftanstrengungen für ein besseres Leben und den Schutz ihrer Kinder. Auf der Spur der Mandarinenkerne und von schwarzem Humor flankiert werden die Lügen und Geheimnisse dreier Frauengenerationen erstklassiger Stoff für ein originelles Thrillerdebüt.
(Lore Kleinert)
Mary Paulson-Ellis, *1968 in Glasgow/Schottland, Drehbuchredakteurin, Kuratorin und Autorin, lebt in Edinburgh
Mary Paulson-Ellis „Die andere Mrs. Walker“
aus dem amerikanischen Englisch übersetzt von Kathrin Bielfeldt
Kriminalroman, Ariadne im Argument Verlag 2022, 440 Seiten, 23 Euro