William Boyle
Brachland
Ein Mord gleich zu Beginn: Der korrupte Cop Donnie Parascandalo bringt als Schuldeneintreiber der lokalen Mafia den spielsüchtigen Lehrer Giuseppe um. Fast alle Cops, die er kennt, sind bestechlich oder kassieren Schutzgeld.
Auf der Suche
Sämtliche Überzeugungen, die sie mal hatten, haben sie längst verraten. Der Tod seines Sohnes macht Donnie reizbar.
„Ihn gleich ins Wasser werfen findet Donnie besser. Dann sind sie diese Nervensäge ein für alle Mal los. Und geben seinem versifften Sohn Mikey mit einem toten Daddy und einem Berg Schulden was zu denken. Er will jemandem was wegnehmen, so wie ihm Gabe weggenommen wurde.“
Gabe war Donnies Sohn, der Selbstmord beging, und die Ehe des Polizisten ging darüber in die Brüche. Zwei Jahre nach dem Tod des Lehrers, im Juli 1993, trifft man Täter und Hinterbliebene im kleinen Viertel Gravesend im Süden von Brooklyn wieder: Donnies frühere Ehefrau Donna, Ava mit ihrem nichtsnutzigen Sohn Nick, einen Lehrer auf der vergeblichen Jagd nach einer Drehbuchidee, für die er Donnies Geschichte nachjagt, den Ex-Schüler Mikey und seine Mutter Rosemary, die Frau des Ermordeten, und das schöne Mädchen Antonina, dem das Viertel längst zu eng ist. Alle verstricken sich, auf der Suche nach irgendetwas.
Trügerische Sehnsucht
Wie Billardkugeln ändern sie bei jeder Begegnung immer wieder ihre Richtung. Ein Mörder wird zum guten Samariter: Als Ava Bifulco, die ein Altersheim leitet, auf der Verrazano Bridge mit dem Auto liegenbleibt, nimmt ausgerechnet Donnie Parascandalo sie mit, und eine Geschichte zwischen ihnen beginnt.
„Als Kind habe ich oft von Coney Island geträumt“, sagt sie. „So nah und doch so fern. Zehn Minuten mit der Bahn. Mit dem Auto fünf Minuten. Meine Eltern und ich sind fast nie hergefahren. Wir sind nicht an den Strand und noch viel weniger auf den Rummel, nicht mal zum Unabhängigkeitstag.“
Wenn sie an ihre Großeltern denkt, die aus Neapel, Kalabrien und Sizilien einwanderten, bedauert sie, kaum ein Wort Italienisch sprechen zu können.
William Boyle baut den Mikrokosmos der Enkel eingewanderter Italiener authentisch und mit untergründiger Spannung auf. Wenn er sie aufeinander loslässt, bewegen sie sich sogar mal aus ihren Sackgassen heraus, angetrieben von der trügerischen Sehnsucht der Abgehängten und Gescheiterten. Ava zum Beispiel fragt sich, „was es bedeutet, von einem Ort herzukommen, den man kein bisschen kennt. Der Gedanke macht sie traurig. Kaum schaut sie aufs Meer, ist sie todtraurig“, und der stoische Ex-Polizist möchte sie glücklicher machen. Alles scheint plötzlich möglich, oft mit schwarzem Humor unterlegt – bis sich der Lauf der Billardkugeln wieder ändert.
Triste Realität
Währenddessen wird Donna aus der Trauer um ihren Sohn herausgerissen, als sie den viel jüngeren Mikey kennenlernt.
„Sie gehen wie Leute, die sich sehr nahegekommen sind, sich aber noch besser kennenlernen müssen. Jeder Schritt ist gemessen. Mikey sieht Dinge, die er noch nie gesehen hat.“
Auch hier tut sich ein Spalt in der tristen Realität auf, doch dass Mikeys Mutter Rosemary noch immer die Schulden des toten Vaters an den Gangsterboss des Viertels abzahlen muss, ist ebenso Teil der Wirklichkeit, die der Autor schon in den drei Vorgängern dieses Romans aus unterschiedlichen Perspektiven beleuchtet hat. Boyle vertraut seinen Figuren und kennt sie so genau, dass er sie aus ihren widersprüchlichen Gefühlen und Impulsen heraus auf der Bühne der Stadt zum höchst lebendigen Welttheater werden lässt, und das alles in pointierter Sprache. Mit vielen Toten am Ende – ein großartiger Noir-Blick auf Leben und Sterben in Brooklyn.
(Lore Kleinert)
William Boyle, *1978, in Brooklyn/New York aufgewachsen, US-amerikanischer Schriftsteller, lebt in Oxford/Mississippi
William Boyle „Brachland“
aus dem Englischen von Andrea Stumpf
Roman, Polar Verlag 2022, 360 Seiten, 25 Euro
eBook 21,99 Euro