Val McDermid
Der Sinn des Todes
Niemand, der Karen Pirie kannte, hätte jemals eine Karriere im diplomatischen Dienst für sie in Betracht gezogen. Ihre Neigung zum Widerspruch und eine unkonventionelle Hartnäckigkeit lassen Detective Chief Inspector Pirie von der Historic Cases Unit, der Abteilung für unaufgeklärte alte Fälle bekanntermaßen auch dann nicht ruhen, wenn andere längst aufgegeben haben - oder, wie ihr unangenehmer Chef, alles daran setzen, ihr Steine in den Weg zu legen.
Unlösbare Aufgaben
In ihrem 30. Roman verknüpft Val McDermid gleich mehrere Fälle miteinander und stellt ihre Ermittlerin, die nach dem Tod ihres Partners unter Schlaflosigkeit leidet, vor fast unlösbare Aufgaben: Ein jugendlicher Autodieb landet nach einer Horrorfahrt im Koma, und seine DNA verweist auf den Mord an einer jungen Frau vor zwanzig Jahren, der nie aufgeklärt wurde. Zugleich interessiert Pirie sich für den vermeintlichen Selbstmord Gabriels, eines etwas verwirrten Einzelgängers, dessen Mutter Caroline vor zweiundzwanzig Jahren bei einem nie aufgeklärten Bombenattentat auf ein Privatflugzeug ums Leben kam. Waren es wirklich irische Terroristen, wie man es damals für gesichert hielt? Und wieso hielt der Linkshänder Gabriel die Pistole in der rechten Hand? Nur durch ihre Neugierde kommt die Ermittlerin den verwickelten Familienverhältnissen auf die Spur:
"Da waren wir also bei der Hochzeit und tranken Frank Sinclairs absolut köstlichen Champagner, als einer dieser merkwürdigen Zufälle Gabriels Profil in eine Linie mit Franks brachte. Und plötzlich passten alle Puzzleteile zusammen. Es gab keinen Zweifel. Frank Sinclair war ganz offensichtlich Gabriels Vater."
Alte Wunden
Frank Sinclair, der in den Focus rückt, ist einer der mächtigen Zeitungsverleger Großbritanniens, mit einem Ego,
"das die Größe eines kleinen Planeten erreicht. Ich kann mir vorstellen, wie Caroline und Ellie ihm versicherten, sie könnten sich niemanden mit besseren Genen vorstellen"
erfährt Karen Pirie, als sie sich in London umhört und in alten Wunden stochert. Doch Val McDermid sorgt in ihrem Kriminalroman immer wieder mit großem Geschick dafür, dass die naheliegenden Lösungen in der Sackgasse landen.
"Alle Türen um Karen herum schienen zuzufallen. Wirklich, sie sollte wohl die Zeichen beachten und von einem so aussichtslosen Fall ablassen. Wenn es überhaupt einen Fall gab, ermahnte sie sich."
Nachts streift sie allein herum und trifft auf eine Gruppe syrischer Flüchtlinge, und nachdem sie mit ihnen ins Gespräch gekommen ist, bemüht sie sich, ihnen zu helfen und mit ihren Familien Fuß fassen zu können – eine Entscheidung, die sich auch auf die Lösung anderer Rätsel vorteilhaft auswirken wird.
Warmherzig und tapfer
Val McDermid hat mit ihrer Heldin, der wir in deutscher Übersetzung erst zum vierten Mal begegnen, eine warmherzige, tapfere Frau geschaffen, deren Ermittlungen man im bestens recherchierten Umfeld in Schottland und England gleichermaßen gern folgt. Von den Männern ihrer Behörde gern unterschätzt, ist sie unkonventionell und lässt sich ungern unter Druck setzen. In ihrem einzigen Partner Jason 'Minzbonbon' Murray hat sie einen Partner, der unerfahren und etwas unbeholfen Fehler macht und mitunter geschützt werden muss:
"Karen wusste, sie musste eine Möglichkeit finden, die Schuld abzuwälzen. Auf eine Art und Weise, die keinen Unschuldigen traf, natürlich. Die aber überzeugend war. Und sie musste es schnell hinkriegen."
Das gelingt ihr, schnell und überzeugend, während die Geschichte in vielen Umwegen und virtuos aufgebauter Spannung immer mehr Facetten aufblitzen lässt über das Leben im heutigen Schottland, gründliche Polizeiarbeit und die Uneindeutigkeit des Rechts, und ebenso die Bewältigung großer Verluste.
Bedeutung der Herkunft
Die drei Handlungsstränge sind elegant verknüpft mit Fragen nach dem, was Identität ausmacht, welche Rolle Herkunft spielen kann und was Menschen vom Weg abbringen kann. Die Autorin gönnt ihrer Ermittlerin sogar einen sarkastischen Seitenblick auf die Kreativität von Schriftstellern:
"Verdammte Schriftsteller, dachte Karen. Zu faul, sich die legale Möglichkeit für so etwas auszudenken, also erfinden sie irgendetwas."
(Lore Kleinert)
Val McDermid *1955, schottische Journalistin und Krimiautorin, lebt als freie Autorin in Manchester und Edinburgh
Val McDermid "Der Sinn des Todes"
"Out of Bounds" aus dem Englischen übersetzt von Doris Styron
Kriminalroman, Droemer 2017, 496 Seiten, 22,99 Euro
eBook 19,99 Euro
Weitere Buchtipps zu Val McDermid
"Der lange Atem der Vergangenheit"
"Vatermord"