Estelle Surbranche
Nimm mich mit ins Paradies
"Noch hatte sie nicht sämtliche Verbindungen zu ihrer Vergangenheit gekappt, aber auch nicht darüber entschieden, wie es mit ihrem Leben weitergehen sollte. Sollte sie wieder ins Zivilleben zurückkehren oder Bulle bleiben? Sollte sie in Toulouse bleiben oder die Stadt wieder verlassen? Sollte sie die Jagd auf die Killerin fortsetzen oder sie aufgeben?"
Keine Wahl
Kommissarin Gabrielle Levasseur stellt sich diese Fragen an einem Tiefpunkt ihres Lebens, aber die Wahl hat sie nicht. Zwar lebt sie inmitten der Gespenster ihres letzten Falles auf Sparflamme und gilt inzwischen als unfähig, doch Lieutenant Bonanza, der ihr in Toulouse zugeteilt ist, zieht sie in eine noch nicht genehmigte Ermittlung: Eine junge Frau ist verletzt, missbraucht und unter Drogen ins Krankenhaus eingeliefert worden. Sie ist schwer psychotisch, nachdem sie innerhalb weniger Monate total verwahrloste und ihr Konto leergeräumt wurde. Da sie nicht die erste ist, setzen sich die beiden Polizisten auf die Spur eines möglichen perversen Manipulators dieser Mädchen.
Tiefe Traumata
Estelle Surbranche entwickelt parallel den Weg des Mannes, der sich mal Mehdi, mal Adam nennt und Mädchen von sich abhängig macht, indem er sie, wie die junge Samira, mit Liebesschwüren an sich bindet und dann alles daran setzt, sie zu verunsichern, zu brechen und in den Tod zu treiben.
"Sie dürfen sich nur noch für meine Person interessieren. Das soll ihre einzige Obsession sein. Und wenn ich dann einmal in ihren Geist eingedrungen bin, dann forme ich ihn nach Belieben. Ich richte in ihnen ein solches Chaos an, dass ich zum einzigen Bezugspunkt werde, den sie auf dieser Welt noch haben."
Die Autorin beschreibt die enge Welt dieser unsicheren, von strengen Eltern und romantischen Seifenopern geprägten Frauen akribisch. Und auch Kommissarin Levasseur mit all ihrer Härte und Kompromisslosigkeit hat mit tiefsitzenden Traumata zu kämpfen, und frühere Fälle werfen einen langen Schatten. Ihre Widersacherin, die serbische Killerin Nathalie, deren Weg sie bereits im Vorgängerband kreuzte und deren Medaillon sie seither aufbewahrt, hat eine Rechnung mit ihr offen, muss aber zunächst ein neugeborenes, verkauftes Kind aus Rumänien nach Schweden schaffen.
Brutale Kämpferin
Sie neigt zu gewalttätigen Ausbrüchen, wurde sie doch von ihrem Onkel, einem serbischen Mafiaführer noch während des Balkankrieges zur gefühllosen, brutalen Kämpferin abgerichtet, unter anderem in einem berüchtigten Vergewaltigungshaus.
"Wenn sie an diesen Ort zurückdachte, an die unglaubliche Perversität von Hauptmann Batak, verspürte sie noch heute eine extreme Anspannung. Ihr Onkel hatte ihn als 'ganz normalen Mann' beschrieben, als guten Patrioten, der in die Mühlen des Krieges geraten war. Jetzt, so hatte sie gehört, führte er ein geruhsames Leben als Inhaber eines Schuhgeschäfts. Aber für Nathalie und die anderen Frauen, die das Pech hatten, seinen Weg zu kreuzen, sollte es danach nie mehr möglich sein, ein geruhsames Leben zu führen. Der Albtraum verfolgte sie bis heute."
Die Autorin setzt mit der verbalen Opulenz des französischen Noir das Duell zweier harter Frauen in Szene, die sich erst ganz am Ende wieder begegnen. Ihre Gespenster aus der Vergangenheit beherrschen sie, machen sie ruhelos und sorgen für Fehler im glatten Ablauf ihrer Pläne – eine reizvolle Konstruktion, die die Ermittlungen der einen und die Verbrechen der anderen miteinander weiträumig verkoppelt.
Psychologisches Gespür
Der Krimi verbindet in hohem Tempo spannungsreiche, actiongeladene Passagen mit inneren Monologen von großem psychologischem Gespür für die Blessuren sehr unterschiedlicher Frauen in allemal männlich dominierter Umgebung. Und wer mit dem Schlimmsten rechnet, muss sich auf unerwartete Wendungen gefasst machen: Der Krieg ist noch nicht zu Ende.
(Lore Kleinert)
Estelle Surbranche, schon mit 16 Jahren (2002) bekannt als DJane Techno und Hip-Hop, Studium an der ESSEC Business School, Journalistin und Autorin
Estelle Surbranche "Nimm mich mit ins Paradies"
übersetzt aus dem Französischen von Cornelia Wend
Kriminalroman, Polar Verlag 2019, 350 Seiten, 20 Euro
eBook 15,99 Euro