Ilija Trojanow, Christian Muhrbeck
Wo Orpheus begraben liegt
Es gibt Fotos, die Texte illustrieren und Texte, die Fotos erklären. In diesem Buch geschieht nichts von beidem. Hier haben sich Gleichwertige getroffen. Der "Weltenbummler" und Wortkünstler Ilja Trojanow und der Reportagefotograf und genaue Beobachter Christian Muhrbeck.
Rückkehr in die Kindheit
Jeder ist mit seinen Fähigkeiten und seiner Kunst auf die Reise gegangen, dorthin, "wo Orpheus begraben liegt". Ein Bulgarien fernab des Sonnenstrands und der Touristenströme. Für Trojanow ist es eine Rückkehr in die Welt seiner Kindheit. Hier in Sofia wurde er 1965 geboren, 1971 flohen die Eltern mit ihm über Jugoslawien und Italien in die Bundesrepublik. Muhrbeck, Jahrgang 1969, stammt aus Ost-Berlin. Auch ihn zieht es immer wieder an den Balkan. Zwei Männer, die dieses Land nicht unbedingt mögen. Auf jeden Fall aber seine Landschaften und vor allem seine Bewohner.
Jenseits der Klischees
Entstanden sind Fotografien, die jenseits aller Klischees den Alltag am Rand von Europa festhalten. Verbunden mit dieser Bilderwelt sind Erzählungen, die zwischen Reportage und Poesie schweben, und eine Region präsentieren, "die bisher weitgehend verborgen blieb, auch wenn sie längst Teil unseres gegenwärtigen Europa ist", heißt es im Begleittext. Der Band zeigt eine Welt des Verfalls, der Armut, der Stagnation. Er beschreibt das Leben der kleinen Leute, der "Zigeuner", der Arbeitslosen, der Ausgestoßenen und Ausgegrenzten. Sie kommen uns nah – so wie die Autoren ihnen nahe gekommen sind, sehr nahe.
Schwarz und weiß
Manche Rezensenten bezeichnen die so entstandenen Geschichten und die Fotos mit ihren Grautönen als trist. Das Gegenteil ist der Fall: Diese Fotos sind nur auf den ersten Blick schwarz-weiß. Wer genauer hinschaut, sieht Farben, die nicht durch künstliche Buntheit überdeckt werden, spürt die Gerüche, hört den Wind, die Stimmen, ihren Gesang und die Stille. Er erlebt Menschen, die ihren Alltag in großer Würde meistern, die weinen und lachen und auf der Suche sind nach dem Glück. Wie wir alle.
Projekt Europa
Wer sich auf diese Entdeckungsreise einlässt, wird klüger und sensibler. Und begreift vielleicht ein wenig mehr, wie wichtig dieses Projekt ist, wie spannend und schwierig – das Projekt eines einigen Europas. Und lernt ganz nebenbei zwei große Künstler kennen.
(Gislinde Schwarz)
Ilija Trojanow, Christian Muhrbeck "Wo Orpheus begraben liegt"
Hanser 2013, 224 Seiten, 24,90 Euro