Affinity Konar
Mischling
Mischlinge waren bei den Nazis Personen, die aus einer Verbindung von Jude und Arier stammten. Die Zwillingsmädchen Stasia und Perle, die mit blonden Locken in Auschwitz vor ihrem künftigen Peiniger stehen, kennen diesen Begriff seit langem.
Riesen und Liliputaner
"Das sind Mischlinge?', fragte er. '"Dieses flachsblonde Haar?" Mama zerrte an ihren dunklen Locken, als schämte sie sich ihrer Schönheit, und schüttelte den Kopf. 'Mein Mann - er war blond', brachte sie heraus."Gene sind etwas Sonderbares, nicht wahr?" sagte der Arzt … und "wie schön, dass wir Deutsch sprächen, sagte er, wie schön, dass wir blond seien. Nicht schön fand er, dass wir braune Augen hatten, allerdings könne sich dies … noch als nützlich erweisen."
So beginnt das Martyrium von Stasia und Perle, 12jährige, eineiige Zwillinge, von der Mutter in "Onkel Doktors" Hände gegeben – in der Hoffnung, sie könnten überleben. Sie werden in Mengeles "Zoo" aufgenommen, durchleben wie viele andere Zwillinge Demütigung, Folter und seelische Qual - ein Albtraum. Die Kinder werden stundenlang befragt, genauestens inspiziert, detailliert vermessen und "sortiert". Denn Mengele interessiert sich nicht nur für Zwillinge:
"Bei diesem Appell sah ich zum ersten Mal alle Versuchspersonen Mengeles an einem Ort versammelt: die Mehrlinge, die Riesen, die Liliputaner, die Arm- und Beinlosen, die Juden, die er ihrem Erscheinungsbild nach kurioserweise für arisch hielt. …. Wir bemühten uns, die Blicke zu ignorieren, während wir unsere harten Brotkanten zerbissen und unseren trüben Kaffeesatz tranken."
Torturen an Körper und Seele
Aus dem Blickwinkel der Kinder, die vieles gar nicht begreifen und in ihrer Fantasie neu erfinden, beschreibt Affinity Konar Einzelheiten der "medizinischen" Behandlungen in den Laboren, die Spritzen und Infusionen, die Tropfen in Augen und Ohren, die vielen Torturen, die den Kindern bei lebendigem Leib zugefügt wurden - und die Qual der Trennung, denn Zwillinge wie Stasia und Perle fühlen wie ein Herz und eine Seele, erleben den Schmerz der anderen, selbst wenn sie nicht bei ihr sind. Über unsichtbare Drähte halten sie sich am Leben - aber dann ist Perle plötzlich verschwunden. Mit den Todesmärschen kurz vor der Befreiung beginnt für Stasia und Feliks, einen anderen Zwilling, dessen Bruder längst getötet wurde, eine bittere Flucht ins Ungewisse.
Zwischen Fiktion und Realität
Affinity Konar lässt Perle und Stasia abwechselnd als Ich-Erzählerin auftreten, fügt Erinnerungen an ihr früheres Leben hinzu, baut in die persönlichen Geschichten aktenkundige Fakten und Recherchen ein. Die Täter, auch Mengele, bleiben weitgehend im Hintergrund. Es geht Konar vor allem um die Opfer. Ihr gelingt die schwierige Balance zwischen Fiktion und Realität – in einem zugleich erschütternden und berührenden Roman, der die Leser zwar manchmal an die Grenzen des Erträglichen führt, aber mit Empathie, genauem Gespür für die Grenzen des Beschreibbaren und mit großer sprachlicher Kraft die nahezu übermenschlichen Anstrengung der Mädchen offenbart, trotz Grausamkeit und Chaos die Hoffnung nicht zu verlieren:
"Am 20. Januar 1945 war die fieberhafte Betriebsamkeit der SS bis zur Flucht gegoren: Wir sahen sie dieselben Lastwagen besteigen, auf denen sie die Leichen unserer Angehörigen gestapelt hatten, und die Flucht ergreifen. … Wer nicht floh, streifte umher und nahm sich an Macht, was noch zu finden war."
Die Kraft der Hoffnung
Als Nachgeborene kein Sachbuch, sondern einen Roman über Mengeles Menschenversuche in Auschwitz und über die Gräuel an Kindern, die als Versuchsobjekte versklavt wurden, zu schreiben, ist durchaus riskant - geht das? Ja, es geht, weil Affinity Konar, deren Vorfahren als polnische Juden rechtzeitig in die USA fliehen konnten, Wissen vermitteln und erinnern will und dies voller Mitgefühl tut. Sie erzählt nicht nur von grauenvollem Leid, sondern auch von Freundschaften, von unzerstörbarer menschlicher Würde, von der unverbrüchlichen Hoffnung auf Rettung und von der Fähigkeit, "todeslos" zu sein, um das Unbeschreibliche zu überleben. Und sie hofft, so sagte sie im Interview, dass
"mein Roman Gefühle hervorruft, die vielleicht die Tür zur Tür zur Tür zum Unaussprechlichen aufstoßen. Mir ist meine Distanz bewusst. Am liebsten hätte ich das an die Seitenränder geschrieben."
(Christiane Schwalbe)
Affinity Konar, *1978 in Kalifornien aufgewachsen, Studium in San Francisco, sie lebt in Los Angeles
Affinity Konar "Mischling"
Aus dem Englischen von Barbara Schaden
Roman, Hanser 2017, 368 Seiten, 24 Euro
eBook 17,99 Euro