Celeste Ng
Kleine Feuer überall
"Ihr ganzes Leben lang hatte sie gelernt, dass Leidenschaft, genau wie Feuer, gefährlich war, leicht außer Kontrolle geriet, Wände hochkletterte und Gräben übersprang." Als sich 1968 die Revolte gegen den Vietnamkrieg wie ein Buschfeuer im ganzen Land ausbreitete, erwachte in der fünfzehnjährigen Elena der Wunsch, die Welt besser zu machen.
Sicherer Schutzwall
Doch die in drei Generationen festgefügten Begriffe von Ordnung, Regeln und Etikette in der Mittelschichtidylle Shaker Heights erwiesen sich als sicherer Schutzwall gegen jedes Übermaß an Emotionen. Inzwischen ist Elena Richardson Ehefrau und Mutter von vier Kindern, und gleich zu Beginn dieses Romans geht ihr Haus in Shaker Heights in Flammen auf. Am Ende ist die jüngste Tochter Izzy fort, und wie es dazu kommt, wie die Leidenschaften in diesem Mikrokosmos im Ohio der Neunziger Jahre zum Schwelbrand werden, erzählt "Kleine Feuer überall" mit feinem Gespür für die Selbstbeschwichtigungen und Lügen, die den Kitt des Zusammenlebens ausmachen.
Nomadenleben
Die Fotokünstlerin Mia mit ihrer halbwüchsigen Tochter Pearl wird Mrs. Richardsons Mieterin und hilft ihr im Haushalt, während Pearl sich mit den vier Kindern anfreundet und froh ist, dass das bisherige Nomadenleben allein mit ihrer Mutter endlich ein Ende hat. Enge Freunde der Richardsons wollen ein chinesisches Baby adoptieren, das offenbar von seiner Mutter verlassen wurde, doch als die Einwanderin ihren Anspruch geltend macht, spaltet sich die Gemeinschaft und Mia und Elena werden zu Gegenspielerinnen. Celeste Ng erkundet, wie diese Frauen wurden, was sie sind, und welche Auswirkungen ihre Entscheidungen auf ihre Kinder haben, mehr oder weniger bewusst, doch immer mächtig.
"Man wünschte sich nichts sehnlicher, als sein Kind in den Arm zu nehmen und so fest zu halten, dass man mit ihm verschmolz, doch was man bekam, war nur ein flüchtig an die Schulter gelehnter Kopf. Es war, als übte man vom Duft eines Apfels zu leben, wenn man ihn doch eigentlich verschlinge, wenn man mit den Zähnen hineinbeißen und ihn samt Kerngehäuse und allem aufessen wollte."
Fallstricke der Moral
Mutterschaft ist ein zentrales Thema, und die Autorin setzt sich in den sich kreuzenden Geschichten ihrer Protagonisten vielschichtig damit auseinander. Die Fallstricke der Moral verknüpft sie elegant mit den Chancen, die auf sehr unterschiedliche Weise genutzt oder verfehlt werden, und mit den komplizierten, widerstreitenden Gefühlen aller. Dass sie jede einzelne Person, die Mütter und Väter ebenso wie die Jugendlichen mit knappen Pinselstrichen höchst lebendig in immer wieder wechselnden Konstellationen aufeinanderprallen lässt, macht ihren zweiten Roman zum großen Lesevergnügen.
Seine überraschenden Wendungen eröffnen immer neue Perspektiven, nicht nur auf die Mustergemeinde im ländlichen Ohio, sondern auch auf die Unterströmungen der amerikanischen Gesellschaft. In den Zeiten von Trump und 'Black Lives matter' wissen wir mehr über ihre zerstörerischen Auswirkungen, doch Celeste Ng erforscht, welch' große Rolle die Illusionen und ideologischen Selbstvergewisserungen dabei spielen, sich über schwelende kleine und größere Feuer hinwegzutäuschen. Bis das Haus niederbrennt.
(Lore Kleinert)
Celeste Ng, *1980 in Pennsylvania, aufgewachsen in Shaker Heights, Ohio, US-amerikanische Autorin chinesischer Eltern (Hongkong), dieser Roman wurde vielfach prämiert und auch schon verfilmt
Celeste Ng "Kleine Feuer überall"
"Little Fires Everywhere" übersetzt von Brigitte Jakobeit
dtv 2018, 384 Seiten, 22 Euro
eBook 19,59 Euro, Audio CD 19,95 Euro
Weiterer Buchtipp zu Celeste Ng
"Was ich euch nicht erzählte"