Emily Ruskovich
Idaho
Ein Roman, der mühelos zwischen den Zeiten hin- und herspringt und dabei über fünfzig Jahre, zwischen 1973 und 2025, durchkreuzt. Eine Geschichte, die weder den Mord an einem Mädchen aufklärt, noch das Verschwinden seiner älteren Schwester.
Sprache und Erinnerung
Nicht nur eine, sondern sehr viele Geschichten werden erzählt, verbunden, wieder verlassen. Geht das? Geht das gut? Die Mutter, die ihre Tochter erschlug, stellt viel später, im Gefängnis, eine aufschlussreiche Verbindung her.
"Was ist das für eine Art von Sprache? Was für eine Art von Gefängnis?
In Emily Ruskovichs Debütroman spielen Sprache, Zeit und Erinnerung die tragenden Rollen, die die vielen Geschichten miteinander verknüpfen.
Flucht in die Wälder
Als Wade und Ann acht Jahre lang verheiratet sind, im Jahr 2004, erfasst ihn die in seiner Familie angelegte Frühdemenz, zerstört allmählich sein Gedächtnis und verändert seine Persönlichkeit. Wenn er Löcher in die Wände seines Hauses sägt, sorgt Ann dafür, dass alles wieder repariert wird, und bevor seine Vergangenheit in schwarzen Löchern verschwunden ist, versucht sie, mehr über seine Geschichte zu erfahren. Wade war mit seiner ersten Frau Jenny in die Einsamkeit der nordwestlichen Wälder Idahos gezogen, gemeinsam und mit Mühen überstanden sie die Härte des ersten Winters dort. Doch die Erzählung vom glücklichen Überleben nach der Geburt der ersten Tochter, June, endet im Augenblick, als Jenny die sechsjährige Emily mit der Axt auf einer sommerlichen Fahrt im Pickup erschlägt und June in die Wälder flüchtet und verschwunden bleibt.
Ein Hauch von Hoffnung
Während Wades Krankheit das Grauen dieser Zerstörung allmählich auslöscht, verstärkt sich für seine zweite Frau Ann das Bemühen, mit dem Aufspüren der Bruchstücke der Erinnerung dieser scheinbar so sinnlosen Tat näher zu kommen und sie zu verstehen.
"Aber dann spürt sie in seinen verletzlichsten, würdelosesten Momenten ab und zu, dass die Ereignisse seines Lebens noch nicht ganz verloren sind, dass jener eine Nachmittag, an den er sich nicht mehr erinnert, immer noch in ihm ist, ihn ausfüllt."
Weiß er noch, dass er zwei kleine Mädchen hatte? Erinnert er sich an seine Frau Jenny, die zu lebenslänglicher Haft verurteilt wurde und nie eine Erklärung fand? Auch ihre Gegenwart beschwört der Roman, als empathische junge Mutter, als abgestumpfte Gefangene, die durch die Freundschaft mit Elizabeth, einer anderen Lebenslänglichen und auch durch die Intervention von Ann wieder zu einem Hoffnungsschimmer fähig wird.
Verbotene Orte
Auch die Perspektive der Kinder beschreibt Emily Ruskovich in leuchtender, poetischer Sprache, die dennoch nie in Gefühligkeit versackt. Der Roman entfaltet die unterschiedlichen Blickwinkel in Zeitsprüngen, Rück- und Vorausblenden, die sich zu einer ganz eigenen, raffinierten Chronologie zusammenfügen, und die Erwartung, endlich die Ursache für das zu finden, was an diesem Sommertag mit Jenny geschah, enttäuschen und zugleich verwandeln.
" Aus dem Rätsel heraus, in dem sie gefangen ist, hat sich Ann ungefragt in seine vergangene Liebe eingemischt und an verbotene Orte begeben. Sie hat sich dort eingeschleust, wo sie nichts zu suchen hat. In ein Buch in einem Gefängnis."
An diese geheimen Orte folgt die Autorin all ihren Personen, diskret, beharrlich, mit der Feinfühligkeit einer guten Ethnologin, die die Zeichen, die sie sieht, ernst nimmt, ohne sie jemals wirklich entziffern zu können. Diesen Weg öffnet sie ihren Lesern, indem sie psychologische Tiefenbohrungen und allzu einfache Abkürzungen vermeidet. Die Tat Jennys bleibt so unerklärlich wie der erste Mord in der Geschichte der Menschheit, und die grandiosen, menschenleeren Berglandschaften Idahos bilden den Kontrast zur Enge, in der die Menschen ihr Leben fristen, und dem Verschlossensein in ihr je eigenes Erleben.
Gnade im Vergessen
Obwohl Wade im Verlauf seiner Krankheit mitunter zu bizarren Gewaltausbrüchen neigt, hält seine zweite Frau Ann, die ihn einst, als er noch Familienvater war, Klavierspielen lehrte, eine tiefere Verbindung aufrecht, unbeschadet von Zerstörung und Verlust:
"Während er döste, spürte sie förmlich, wie sein altes Leben und seine Erinnerungen von seiner Haut abstrahlten und ihn alles verließ. Alles außer ihr. Auch sie streifte ihr altes Leben ab, um sein Gegenstück zu werden. So lagen sie dort gemeinsam, ein Punkt in der Zeit."
Wenn die konkrete Textur der Erinnerung verschwindet, bleiben jedoch - vielleicht am schwierigsten zu beschreiben - die Gefühle. Emily Ruskovich erkundet die Gedankenorte aller Personen mit großer Empathie und dem Wissen, dass sich alles Erinnern allmählich vermischt und überschrieben wird, und dass im Vergessen und Verschwimmen auch Gnade liegt.
(Lore Kleinert)
Emily Ruskovich, aufgewachsen in Idaho, lehrt Creative Writing, Lebt in Idaho City
Emily Ruskovich "Idaho"
aus dem Amerikanischen übersetzt von Stefanie Jacobs
Roman, Hanser Berlin 2018, 384 Seiten, 24 Euro
eBook 17,99 Euro