Kent Haruf
Lied der Weite
Kent Haruf führt uns erneut in die fiktive Kleinstadt Holt im US-Bundesstaat Colorado. Alle seine sechs Romane spielen hier, in der Provinz, wo jeder jeden kennt und bestens Bescheid weiß über echte und angedichtete Geheimnisse der anderen.
Gewagte Idee
In "Unsere Seelen bei Nacht", dem letzten und nach seinem Tod erschienenen Roman, der in berühmt gemacht hat, erzählt er die Geschichte einer späten Liebe, verfilmt mit Jane Fonda und Robert Redford. Auch diesmal ist es eine Liebesgeschichte der besonderen Art, die weniger mit Leidenschaft als mit tief empfundener Nächstenliebe zu tun hat.
Victoria Roubideaux ist schwanger – mit gerade mal 17 Jahren. Ihre Mutter zeigt keinerlei Verständnis, im Gegenteil: "Du blöde kleine Schlampe … ich will dich in dem Zustand nicht hier haben." Victoria muss das Haus verlassen und sucht Hilfe bei ihrer Lehrerin. Die hat eine gewagte Idee.
Rauhe Kerle
Sie will das junge Mädchen bei zwei älteren Viehzüchtern auf dem Land einquartieren. Die Brüder sind rauhe Kerle, unbeholfen, beide Junggesellen, erfahren im Umgang mit Kühen, aber hilflos, wenn es um Menschen geht, dafür hilfsbereit und ehrlich. Sie lassen sich überreden und geben Victoria ein neues Zuhause. Am Tisch wird viel geschwiegen, die Männer, beide Junggesellen, sind wortkarg und schwerfällig, aber sie geben sich alle Mühe.
"Ich muss jetzt noch nichts über Babys wissen. Vielleicht ist ja noch Zeit etwas zu lernen. Also machst Du jetzt mit oder nicht. Weil ich mach's auf alle Fälle, so oder so. …. Das wird kein gottverdammtes Sonntagsschulpicknick."
Stumme Zustände
Irgendwann finden die drei zueinander und bilden eine eingeschworene Gemeinschaft. Aber zu viel Harmonie ist nicht Harufs Sache, der zwischen den Zeilen all' die Frustration, Eintönigkeit und Langeweile versteckt, die Bewohner der kleinen Stadt in tiefe Melancholie zu stürzen vermag. Schlimmer noch: in Depression, wie die Mutter zweier Söhne, die teilnahmslos im Bett liegt, unfähig, sich um ihrem Mann und die beiden Jungs zu kümmern.
"Aber oft konnten sie nicht bei ihrer Mutter im Zimmer sein, weil sie wieder einen ihrer stummen Zustände hatte, und dann wollte sie im verdunkelten Raum allein sein."
Sehnsucht nach Liebe
Ike und Bobby tragen Zeitungen aus, um Geschenke für ihre Mutter zu kaufen, sind Morgen für Morgen die einzigen Gesprächspartner einer einsamen, alten Frau. Oder sie beobachten heimlich ein junges Mädchen aus der Highschool und ihren Freund, der sie einem anderen Jungen "ausleiht." Sie haben sich zwangsläufig ein eigenes Leben geschaffen, halten zusammen und bleiben doch Kinder, die sich nach der Liebe ihrer Eltern sehnen. Ihr Vater schlägt sich mit der Familie eines Rowdies herum, der eine Mitschülerin beleidigt hat, und ihre Mutter verlässt die Familie, zieht zu ihrer Schwester nach Denver. Die Ehe mit ihrem Mann ist gescheitert:
"Ich will mehr vom Leben. Das ist mir jetzt klar geworden. Ich war gar nicht mehr da, mir selbst entfremdet. Die ganzen Jahre habe ich noch etwas anderes von dir gewollt, mehr. Ich wollte jemanden, der mich so will, wie ich bin. Nicht seine eigene Version von mir."
Blick in die Seelen
Haruf verknüpft berührende Geschichten miteinander, schreibt lakonisch, schnörkellos und doch liebevoll nicht nur über Gefühle, sondern auch drastisch über die unschönen Dinge des Lebens auf dem Land und in der Stadt. Seine Protagonisten sind fürsorglich und brutal, menschlich und mutig, robust und zerbrechlich, naturverbunden und schlicht. Und alle warten auf Zuwendung und Liebe. Aber das sagen sie uns natürlich nicht, das sollen wir fühlen. Denn auch im "Lied der Weite" sind es die Seelen der Menschen, in die Haruf die Leser blicken lässt.
(Christiane Schwalbe)
Kent Haruf (1943–2014) war Lehrer und ein amerikanischer Schriftsteller von insgesamt sechs Romanen
Kent Haruf "Lied der Weite"
"Plainsong" übersetzt von Rudolf Hermstein
Roman, Diogenes 2018, 384 Seiten, 24 Euro
eBook 20,99 Euro
Weiterer Buchtipp zu Kent Haruf
"Abendrot"
"Unsere Seelen bei Nacht"