Kent Haruf
Abendrot
Holt, Colorado. Eine Kleinstadt, in der jeder jeden kennt und im schlimmsten Fall auch jeder über jeden herzieht. Denn man wohnt nah beieinander an solch einem Ort. Das kann wirkliche Nähe bedeuten und Gemeinschaft, oder bloß Neugier und bösartige Gerüchte.
Ganz nah
Kent Haruf ist ganz nah bei seinen Figuren, seine Beobachtungen suchen ihre Würde und ihre Seele, die sich manchmal tief vergraben hat, um nicht noch mehr verletzt zu werden. Wie bei Betty, die sich hinter körperlichen Schmerzen versteckt, weil ihr das Sozialamt bereits eine Tochter weggenommen hat. Mit ihrer Familie lebt sie in einem heruntergekommenen Wohnmobil in ziemlich prekären Verhältnissen. Betreut wird sie von der selbstlosen Rose Tyler, die ihr weitere Sanktionen ersparen will. Aber gegen den Bruder von Betty ist sie machtlos. Der ungehobelte, gewalttätige Kerl misshandelt die Kinder und stürzt die Familie vollends ins Unglück. Rose ist verzweifelt:
"Ich sagte ihnen, alles würde gut werden. Das war gelogen. Ich habe ihnen nicht die Wahrheit gesagt. Diese Sache hat keinerlei Priorität für die Polizei. Die werden ihren Onkel nicht finden … Ich habe solche Dinge schon so oft erlebt … Und heute konnten sie nur von ihren körperlichen Gebrechen sprechen. Es ist das Einzige, worüber sie überhaupt reden können."
Schwerer Abschied
Rose ist zum Glück nicht allein, sie wird getröstet von Raymond, einem der beiden McPheron-Brüder. Die beiden wortkargen Viehzüchter kennen wir aus "Lied der Weite". Da ließen sie sich von der Lehrerin Maggie dazu überreden, die schwangere Victoria bei sich aufzunehmen, die von ihrer Mutter verstoßen wurde. Es war eine gute Entscheidung für alle drei. Mit ihrer kleinen Tochter zieht Victoria nun weg, um aufs College zu gehen. Der Abschied fällt schwer:
"Sie stellte sich auf die Zehenspitzen, küsste die alten Männer auf die wettergegerbten Wangen, umarmte sie und dankte ihnen für alles, was sie für sie und ihre Tochter getan hatten. Auch sie umarmten sie und klopften ihr unbeholfen auf den Rücken. Sie küssten die Kleine. Dann traten sie verlegen einen Schritt zurück und wussten nicht … was sie sonst tun sollten außer aufzubrechen."
Sehnsucht nach Liebe
Das Leben geht weiter, mit Schmerz hält man sich nicht lange auf. Aber manchmal gibt nur noch die Fürsorge im Krankenhaus den notwendigen Schubs, um weiterzumachen, auch wenn es scheinbar keinen Sinn mehr hat – wie für Raymond, der seinen Bruder verliert, mit dem er sein ganzes Leben verbracht hat.
Kent Harufs Figuren suchen Halt und Liebe, eine Schulter zum Anlehnen - in der Kneipe, in der Kirche, in der Weite der Landschaft. Aus unerwarteten Begegnungen, Träumen, Ängsten und der Hoffnung auf ein kleines Glück spinnt der Autor ein Netz, in dem sich die einen verfangen und straucheln, andere Geborgenheit und Schutz finden. Liebevoll und mit großer Empathie schildert er die Charaktere von Menschen, die ihren mehr oder weniger harten, oft einsamen und manchmal nur ereignislosen Lebensalltag zu bewältigen versuchen.
Mitfühlende Beobachter
"Der Junge war klein, untergewichtig für sein Alter, mit dünnen Armen und dünnen Beinen und braunem Haar, das ihm in die Stirn fiel. Er war aufgeweckt, verantwortungsbewusst und zu ernst für seine elf Jahre. ...Der Junge hieß DJ Kephart. Er kümmerte sich um den alten Mann und geleitete ihn nachts durch die dunklen Straßen nach Hause, wenn er mit dem Erzählen in der Kneipe fertig war."
Seit dem Tod der Mutter sorgt DJ für seinen Großvater, kocht, wäscht, erledigt alle Hausarbeiten. Nicht unbedingt das ideale Leben für einen Elfjährigen. In einem verlassenen Haus schafft er sich zusammen mit der gleichaltrigen Dena ein gemütliches Ersatzzuhause:
Im Schuppen zündeten sie eine Kerze an, setzten sich hin und sahen sich an. ... und was in den Häusern geschah, aus denen sie kamen, schien für diese kurze Zeit wenig Bedeutung zu haben."
Kent Haruf erzählt einfühlsam, in einer schönen, schnörkellosen Sprache, er zieht uns mitten hinein in die Hoffnungen der Menschen, die so oft enttäuscht, manchmal aber auch erfüllt werden. Bei der Lektüre seiner eng miteinander verknüpften, berührenden Geschichten aus Holt, diesem Mikrokosmos in der Provinz, werden wir nicht zu Voyeuren, sondern zu mitfühlenden Beobachtern.
(Christiane Schwalbe)
Kent Haruf (1943–2014) war Lehrer und mehrfach preisgekrönter US-amerikanischer Autor von insgesamt sechs Romanen
Kent Haruf "Abendrot"
Roman, Diogenes 2019, 416 Seiten, 24 Euro
eBook 20,99 Euro
Weiterer Buchtipp zu Kent Haruf
"Lied der Weite"
"Unsere Seelen bei Nacht"