Hanya Yanagihara
Das Volk der Bäume
Ivu'ivu ist eine kleine Insel in Mikronesien – hier leben Menschen, die möglicherweise unsterblich sind. Zumindest meinen das zwei Anthropologen und ein Mediziner herausgefunden zu haben, die dort ein verschollenes Steinzeitvolk entdecken.
Pulsierendes Gewühl
Einheimische Führer begleiten sie auf ihrem Weg durch den Dschungel, dessen "geradezu lasterhaft verschwenderische Seite" den Mediziner Norton Perina zu nerven beginnt. Er droht, "abzudrehen", wie er selbst sagt:
"Es kam mir vor als wollte der Dschungel ständig vor sich selbst protzen – jeder Stein, jeder Baum, jede Oberfläche, die stillhielt, war mit Grün zurechtgemacht, herausgeputzt, verschnörkelt: Es gab Fisteln von Büschen, mit Ranken umwickelt und mit Moos und Flechten gesprenkelt, und Bäume, behängt mit langen Schürzen aus haarigen Wurzeln, die von einer anderen, unsichtbaren, vermutlich hoch über dem Blätterdach lebenden Pflanze herabfielen."
In diesem pulsierenden Gewühl von Pflanzen, Früchten, Farben, Tieren in dem "alles so überdeutlich darauf (hinweist), dass Verzauberung hier Realität ist" fällt 'es' ihnen buchstäblich vor die Füße: Eine Kreatur mit verfilzten Haaren, tierischem Verhalten, knurrend und kreischend, fressend und schlürfend.
Im Einklang mit der Natur
Bei näherer Betrachtung entpuppt 'es' sich als eine Frau, die Forscher nennen sie Eva, ein "Nichtmensch", sagen die Führer. Es ist die erste einer ganzen Gruppe dieser menschlichen Geschöpfe, die körperlich kräftig und gesund sind, aber offensichtlich keinerlei geistige Fähigkeiten besitzen. Die Forscher entdecken noch mehr – ein funktionierendes Dorf, in dem Männer, Frauen und Kinder nach uralten Regeln im Einklang mit der Natur leben, und riesige Schildkröten, deren Fleisch nur 60jährige essen dürfen – und offensichtlich unsterblich werden.
Die Entdeckung dieses Phänomens bedeutet in der weiteren Konsequenz zugleich die Vernichtung dieses Volkes, seiner Schildkröten und schließlich der Insel. Denn die Hoffnung auf Unsterblichkeit bringt Horden von Forschern nach Ivu'ivu und mit ihnen die zivilisatorischen Errungenschaften, die alles platt walzen: Flugzeuge, Motorboote, Landebahnen, Straßen, Benzinmotoren, Alkohol, Drogen, Waschmittel, Dosenfleisch.
Ein großer Mann?
Ein praller, üppiger Roman, mit seiner ungemein detaillierten, lebendigen und eindrucksvollen Schilderung der geheimnisvollen Inselwelt selbst ein Dschungel, dessen ungewöhnliche Konstruktion man erst mal durchschauen muss. Aufgebaut wie eine Dokumentation und mit zahlreichen Anmerkungen und Fußnoten, Zeichnungen von Inseln und Umgebung versehen, ist er doch komplett Fiktion. Die Autorin hat zwar ein Vorbild, erschafft aber eine "alternative Version" von ihm und zugleich den fiktiven Inselstaat. Zu Wort kommen der Assistent Perinas und er selbst, der im Gefängnis seine Memoiren schreibt. Zudem verknüpft die Autorin Ethik und Respekt vor fremden Kulturen mit dem Thema Missbrauch. Denn Perina hat nicht nur geforscht, sondern auch Kinder von Ivu'ivu adoptiert und in den USA nach westlichen Maßstäben aufgezogen. Ein Sohn wirft ihm später sexuelle Übergriffe vor. Die Autorin stellt ihrem Vorwort deshalb den Satz voran:
"Wenn ein großer Mann schreckliche Dinge tut, ist er dann noch ein großer Mann?"
Sprachliche Kraft
Wie schon "Ein wenig Leben" besticht auch dieser Roman durch seine faszinierende sprachliche Kraft, die Suchtpotential hat und Stefan Kleiner bei seiner großartigen Übersetzung vor einige Herausforderungen gestellt haben dürfte:
"Es gab so viele Grüntöne und -schattierungen – Schlangengrün, Blattlausgrün, Birnengrün, Smaragdgrün, Meeresgrün, Grasgrün, Jadegrün, Spinatgrün, Gallegrün, Kiefergrün, Raupengrün, Gurkengrün, das Grün von aufgebrühtem und von nicht aufgebrühtem Tee. Wie unzureichend ist unser Vokabular für Farben! … Tagsüber sah ich immer wieder Wüsten vor mir, Städte, harte Oberflächen: Glas, Beton und Katzengoldsplitter, die in asphaltierten Straßen glitzerten."
Klare Botschaft
Auch die Botschaft von Hana Yanagihara ist eindeutig: Lasst die wenigen Flecken dieser Erde, die noch intakt sind und nach uralten Regeln funktionieren, in Ruhe. Die Wissenschaft muss nicht in den hintersten Winkel dieser Erde vordringen, um mit westlicher Überheblichkeit zu zerstören, was nach unseren Vorstellungen noch nicht zivilisiert ist.
(Christiane Schwalbe)
Hanya Yanagihara, *1974 in Los Angeles/Kalifornien, Vater Hawaiianer japanischer Abstammung, Mutter Südkoreanerin, US-amerikanische Schriftstellerin, hatte mit "Ein wenig Leben" einen Weltbestseller, lebt in New York
Hanya Yanagihara "Das Volk der Bäume"
"The people in the trees" übersetzt aus dem amerikanischen Englisch von Stephan Kleiner
Roman, Hanser Berlin 2018, 480 Seiten, 19 Euro
eBook 18,99 Euro, AudioCD 20,45 Euro
Weiterer Buchtipp zu Hanya Yanagihara
"Ein wenig Leben"