Hanya Yanagihara
Ein wenig Leben
Dieser Roman ist spannend und zugleich erschütternd. Es gibt Phasen, da würde man am liebsten aufhören mit der Lektüre, weil das unerbittliche Schicksal der Protagonisten einem das Herz zerreißt. Geht aber nicht. Man liest weiter, gerät in einen Sog unentrinnbaren Mit-Leidens.
Dunkle Vergangenheit
Hanya Yanagihara wirft den Leser in ungeahnte Extreme einer Lebensgeschichte, die quälend, aufwühlend und verstörend zugleich ist.
Es geht um vier Männer, die seit dem College miteinander befreundet sind und einander über fast fünf Jahrzehnte hinweg mal mehr, mal weniger begleiten. Sie erleben gemeinsam Höhepunkte, Krisen und Abstürze. Erfolgreich sind sie irgendwann alle, ehrgeizig, wohlhabend, sozial anerkannt:
Malcom, der Architekt, Jean Baptiste, kurz JB, der Maler, beide schwarzer Abstammung, William, der Schauspieler und Jude, der Anwalt, beide weiß. Jude gilt als schwierig, verschlossen, geheimnisvoll, wird wegen eines früheren Unfalls immer wieder von Schmerzattacken heimgesucht. Ein Leidender, der vor den Freunden seine dunkle Vergangenheit zu verbergen versucht – die eines jahrelang misshandelten, ungeliebten Kindes:
Geister der Kindheit
Hanya Yanagihara blendet politische Fakten komplett aus, konzentriert sich ausschließlich auf die Personen und ihre Entwicklungsgeschichte, die höchstens bei Malcom halbwegs reibunglsos verläuft, der aus wohlhabendem Haus kommt. JB durchlebt eine Drogenkarriere, William bekommt lange nur drittklassige Rollen, und Jude, der begnadete und vielseitig begabte Jurist, um den letztendlich die gesamte Geschichte kreist, bleibt ein Leben lang das gequälte Opfer, das die grauenvollen Geister seiner Kindheit niemals loswerden wird. Eins ist ihnen allen gemeinsam – bei aller Unterschiedlichkeit der Hautfarbe und Herkunft sind sie typische Amerikaner, die in der New Yorker Szene der Reichen und Berühmten ein durchaus extravagantes Leben führen, bewundert ob ihres Erfolgs, ihrer Attraktivität und ihrer Klugheit.
Vom Kloster ins Heim
Der Weg dorthin war vor allem für Jude sehr weit: Er ist im Kloster groß geworden, ein Kind ohne Eltern, gefunden in einem Müllsack. Die Mönche geben ihm eine umfassende Bildung, missbrauchen und misshandeln ihn aber auch.
"'Weißt Du, was uns dein Unterhalt kostet?' Hatte Bruder Michael ihn eines Tages einmal gefragt. 'Ich glaube, es hat niemand damit gerechnet, dass Du so lange hierbleibst.' Er hatte nicht gewusst, was er darauf antworten sollte, also hatte er nur stumm dagesessen und stumm auf seinen Schreibtisch gestarrt. 'Du solltest Dich entschuldigen', sagte Bruder Michael zu ihm.
'Es tut mir leid', flüsterte er."
Als er sich schließlich verzweifelt auf die Flucht mit Klosterbruder Luke einlässt, dem er vertraut, wird er von ihm zur Prostitution gezwungen. Der Zuhälter wird erwischt, Jude kommt ins Heim, wird dort schlimmer denn je geprügelt und kann schließlich fliehen. Und als ob das alles noch nicht genug wäre, gerät er in die Hände eines perversen Psychiaters, der ihn wie einen Sklaven missbraucht und schließlich mit dem Auto überfährt.
"Steh auf!" Aber er konnte nicht. Und dann hörte er den Motor wieder anspringen, und er spürte, wie die Scheinwerfer auf ihn zukamen, zwei Feuerströme wie die Augen des Engels, und er drehte den Kopf zur Seite und wartete, und das Auto fuhr auf ihn zu und dann über ihn hinweg, und es war vollbracht."
Selbsthass und Selbstzerstörung
Hanya Yanagihara zeichnet ein Martyrium, das Jude in Schuld, Selbsthass und Selbstzerstörung stürzt. Immer fühlt er sich schmutzig, meint, Liebe und Freundschaft nicht zu verdienen, ritzt sich heimlich, um die Anspannung loszuwerden. "Ich schäme mich" und "es tut mir leid" – das sagt er unzählige Male. Einzig sein Arzt wird lebenslang zum Wegbegleiter, ihm kann er sich anvertrauen, von ihm bekommt er bedingungslos Hilfe. Ebenfalls bedingungslos in seiner Zuneigung ist William, mit dem er zusammenlebt, zunächst nur platonisch. Und schließlich findet er auch bei Harold ein bisschen Frieden, dem Harvard-Dozenten, der ihn adoptiert, aber:
"In Harolds Welt hatte man Eltern, die stolz auf einen waren, sparte ausschließlich für Urlaube und Wohnungen, und wenn man etwas haben wollte, dann fragte man; merkwürdigerweise schien er sich kein Universum vorstellen zu können, in dem solche Dinge keine Gegebenheiten waren, in dem nicht alle dieselbe Vergangenheit und Zukunft teilten."
Fragen einer Generation
Jude ist der ewig Leidende, der sich um eine intakte Fassade bemüht, dahinter aber vor den eigenen Ängsten kapituliert. Seine Seele wird nicht mehr heilen, zu alten Leiden kommen neue hinzu, die Spirale der Gewalt in diesem Roman nimmt kein Ende. Hanya Yanagihara beschreibt eine Höllenfahrt. Aber es geht auch um wichtige gesellschaftliche Probleme: Wie lebt "man", was bedeuten Freundschaft und Familie in Zeiten, in denen Leistungsdruck und zunehmende Isolation prägende Faktoren sind? Es sind existentielle Fragen - nach dem Sinn des Lebens, nach neuen Beziehungsmustern, nach individuellen Lebensformen:
"Warum zählte eine Freundschaft weniger als eine Beziehung? Warum nicht sogar mehr? Zwei Menschen, die Tag für Tag zusammenblieben, nicht durch Sex oder körperliche Anziehung, nicht durch Geld, durch Kinder oder gemeinsamen Besitz aneinander gebunden, sondern allein durch das gegenseitige Einverständnis, zusammenzubleiben, das gemeinsame Bekenntnis zu einer Verbindung, die sich jeder Festschreibung entzog. … Freundschaft bedeutete, sich geehrt zu fühlen, dass man einen anderen in seiner größten Verzweiflung auffangen durfte, und zu wissen, dass man selbst in seiner Gegenwart verzweifelt sein durfte."
Seelische Untiefen
Was macht die Magie dieses Buches aus? Es ist nicht nur die Intensität der Sprache. Mehr noch die psychologische Dimension, denn dieser Roman bietet Projektionsfläche für Gedankenspiele, geht an Schmerzgrenzen, lotet seelische (Un)Tiefen aus und setzt damit auch im Leser ungeahnte Emotionen, Assoziationen und Erinnerungen frei. Deswegen ist die Lektüre manchmal fast unerträglich, und man hofft Seite um Seite, dass dieser gepeinigte Mann endlich aus seinem Schicksal herausfindet.
(Christiane Schwalbe)
Hanya Yanagihara, *1974 in Los Angeles/Kalifornien, Vater Hawaiianer japanischer Abstammung, Mutter Südkoreanerin, US-amerikanische Schriftstellerin, lebt in New York
Hanya Yanagihara "Ein wenig Leben"
"A Little Life" übersetzt aus dem Amerikanischen von Stefan Kleiner
Roman, Hanser Berlin 2017, 960 Seiten, 28 Euro
eBook 19,99 Euro
Weiterer Buchtipp zu Hanya Yanagihara
"Ein wenig Leben"