Alexander Maksik
Die Gestrandete
Von weitem sieht sie wie eine normale Touristin aus. Jacqueline versucht, sich mit dieser Tarnung auf der Insel Santorin durchzuschlagen, eine junge Frau von 23 Jahren, die vorgibt, sich als Studentin etwas dazu zu verdienen, wenn sie gelegentlich Touristen massiert.
Kampf ums Überleben
Doch jeder ihrer Schritte ist auf das nackte Überleben ausgerichtet, darauf, nicht zu verhungern und einen sicheren Schlafplatz zu finden, langsam und ritualisiert, als ob das Bewältigen der Gegenwart die Vergangenheit daran hindern könnte, einzusickern. Das Zeitgefühl hat sie längst verloren, folgt stattdessen wie einem Kompass der Stimme ihrer Mutter, die sie zu ständiger Vorsicht mahnt und weiter treibt. Ihre Flucht aus Liberia, Bilder ihrer Kindheit, ihrer Familie, suchen sie heim und drohen ihr die Kontrolle zu rauben.
"Alles, was hinter ihr lag, selbst ihre jüngsten Erlebnisse, schienen ihre Form und Struktur zu verlieren, so dass sie zusammen mit den beteiligten Menschen und den jeweiligen Orten in ihrem Kopf vernebelten und verfinsterten und nur noch eine Art Nachgeschmack bildeten."
Im Rhythmus der Flucht
Jede Kleinigkeit zählt auf ihrem mühsamen Weg über die Insel, immer auf der Hut vor Übergriffen fremder Männer, und als Leser vollziehen wir jeden ihrer Schritte nach und dringen immer tiefer ein in den Kosmos dieser Geflüchteten. Trost findet sie nur in der Natur, in Schatten und Mondlicht, mit einem Hund als Gefährten für kurze Zeit, und die Zeit verlangsamt sich, so wie die Bewegungen der Frau, die sich ganz dem Rhythmus der Flucht angepasst haben. Nach und nach erfahren wir, dass Jacqueline tatsächlich studiert hat, da ihr Vater Minister unter Liberias brutalem Diktator Paul Taylor war.
Mit schmutzigem Geld
Warum sie als Flüchtling auf dieser Insel landete und was sie als Mitglied der privilegierten Schicht so tief fallen ließ, ist eine Frage, die sich im Bewusstsein der jungen Frau immer quälender an die Oberfläche drängt. Als sie 15 war, besuchte ihre Mutter sie im englischen College, um zu sehen, "wofür sie mit ihrem schmutzigen Geld bezahlten", doch an das Versprechen, das sie ihr gab, nie mehr nach Hause zu kommen, hatte Jacqueline sich nicht gehalten. Jede dieser Erinnerungen verursacht Schmerz, doch Alexander Maksik entwickelt behutsam, wie sich die junge Frau in ihrem Überlebenskampf dazu durchringen muss, sich ihren Erinnerungen zu stellen:
"Sie begann zu verstehen, wollte sie leben, musste sie mit ihrer Erinnerung leben lernen, denn die Erinnerung war die Konstante. Selbst bei ihr, unter so prekären Umständen, von Gefahr und Unsicherheit umgeben und von ihrer unmittelbaren Gegenwart so sehr gefordert, war die Erinnerung die Konstante."
Folgen der Einsamkeit
Sich zu erinnern, und das ist die geheime Substanz dieses Romans, setzt aber voraus, dass es jemanden gibt, dem man sich mitteilen kann. Als Jacqueline auf die junge Kellnerin Katarina trifft, ist ihre Kraft, sich hinter ihrem Stolz zu verstecken, aufgebraucht. Zugleich aber hat ihre Flucht vieles an ganz normalen menschlichen Verhaltensweisen infrage gestellt oder sogar ausgelöscht, und der Autor beschreibt subtil und präzise, welche Folgen Einsamkeit und Härte für sie haben:
"Benutzt sie ihre Geschichte, um diese Frau zu zerstören? Oder gibt es einen anderen Grund? Warum sonst sollte sie ihr ihre Geschichte erzählen wollen? Jacqueline hat vergessen, warum man etwas erzählt. Warum man miteinander redet. Vielleicht hat sie es nie gewusst."
Kunstvoll formuliert
Manchmal genügt es einfach, dass ein Mensch zuhört und das Grauen einer Geschichte wie dieser erträgt, ohne zu urteilen. Alexander Maksik hat sich mit seinem sparsam und kunstvoll formulierten Roman sehr nah an ein einzelnes Schicksal herangeschrieben, ohne Voyeurismus und angemaßte Nähe, sondern mit dem Feingefühl, das jedem dieser Fluchtschicksale gebührt.
(Lore Kleinert)
Alexander Maksik "Die Gestrandete"
Aus dem Amerikanischen übersetzt von Werner Löcher-Lawrence
Droemer 2016, 288 Seiten, 19,99 Euro
eBook 17,99 Euro