Ivy Pochoda
Visitation Street
"Du beugst dich vor, hältst das Ohr ins Wasser. Wenn du das Wasser hören kannst, wird es dir sagen, wo du June findest. Du horchst nach June. Aber das Wasser hat keine Stimme. Sein Herzschlag, der in jener Nacht im Boot zu hören war, ist verstummt."
Fast ertrunken
June ist verschwunden, seit das pinkfarbene Schlauchboot kenterte, in dem sie an einem heißen Sommerabend mit ihrer Freundin Val einen Ausflug rund um ihren New Yorker Stadtteil Red Hook unternahm. Val wird halbtot aus dem Fluss gerettet, von ihrem Musiklehrer Jonathan Sprouse, der sich, noch betrunken, aus der Bar auf den Heimweg macht. Was geschah, weiß das fünfzehnjährige Mädchen nicht mehr genau, doch Junes Verschwinden schlägt den Stadtteil in den Bann – lebt sie noch? Was hat Cree beobachtet, der Sohn eines bei einer Schießerei zwischen Jugendlichen getöteten Vaters und seiner karibischen Mutter Gloria, die noch immer die Stimme des Toten hört?
Zwischen Verzweiflung und Sehnsucht
Ivy Pochoda baut ihren Roman nicht um die polizeiliche Ermittlung und die Aufklärung eines Verbrechens auf, sondern um die Wirkung, die das verschwundene Mädchen auf die Menschen von Red Hook hat: die verzweifelte Val, den desillusionierten jungen Musiklehrer und Pianisten Jonathan, der seine Schuldgefühle wegen des Todes seiner Mutter Nacht für Nacht wegsäuft, Cree, der den Weg in ein Studium und ein besseres Leben jenseits der Sozialbauten hinauszögert, oder der libanesische Ladenbesitzer Fadi, der sein Geschäft für eine bessere Nachbarschaft zur Informationsbörse machen will und auf Kreuzfahrtschiffe hofft. Ivy Pochoda verknüpft ihre Wege und ihre Sehnsüchte und setzt dabei nicht auf die Konventionen des Thriller-Genres. Poetisch und mit den Mitteln des magischen Realismus erweckt sie einen Ort zum Leben, der noch zwischen Gentrifizierung und Kriminalität schwankt und dessen Schichten einander überlagern:
"- die Projects, die über den Holzhäusern erbaut wurden, der Asphalt, der über die Pflastersteine gelegt wurde, die Lofts, die die Fabriken erobern, die Supermärkte, die auf die Lagerhäuser übergreifen…Die Lebenden, die auf den Toten umhergehen, den Toten des Hafenviertels, den Toten der Verbrecherbanden, den Toten der Drogenkriege – alle sind sie noch da. Es ist ein Viertel der Geister."
Manche, wie die Frauen aus Crees Familie, können die Stimmen der Geister vernehmen,
"wie das Klagen des Windes in einem verkohlten Wald, wie das Scheppern einer durch eine leere Straße rollenden Dose, wie das Flüstern des Staubs in einem ausgebrannten Gebäude."
Ein magischer Ort
Andere, wie Ren, der sich wie ein Schatten an Cree heftet und ihn wachrütteln will, sind schicksalhaft und durch eigene Schuld mit Red Hook verknüpft. Wenn er die Unterführungen und Wände als Sprayer bemalt, setzt er elektrisierende Zeichen gegen die Isolierung und das Vergessen. Pochoda kennt das Viertel Brooklyns, von dessen Waterfront man auf Manhattan blickt, aber dessen Glanz nicht erreichen kann, gut, denn sie hat hier gelebt. Ihre reiche Sprache beschwört die Träume jener Menschen, die durch das Verschwinden von June verbunden sind. So verwandelt sie Red Hook mit seiner Mischung aus Sozialbauten und gepflegten Häuschen und den Menschen aus aller Welt in einen magischen Ort, dessen Fluchtwege erkundet werden müssen. Nicht alle führen ins Freie, aber die literarische Komposition Ivy Pochodas erschafft nicht nur eine lesenswerte Geschichte und einen Reigen vielschichtiger Charaktere, sondern auch einen faszinierenden Klangraum, in dem die Vergangenheit ständig präsent ist.
"In Red Hook vergehen die Tage wie Kompositionen. Mal sind es Fugen, mal Sonaten. Die wildesten Tage – wenn es vom Atlantik her stürmt und das Wasser bis in die Van Brunt steigt – sind natürlich Sinfonien. Aber Jonathan versucht gar nicht erst, das den Stammgästen in der Bar zu erklären."
(Lore Kleinert)
Ivy Pochoda, *1977 in Philadelphia, US-amerikanische Schriftstellerin, studierte in Harvard und war professionelle Squashspielerin, lebt in Los Angeles
Ivy Pochoda "Visitation Street"
aus dem amerikanischen Englisch von Barbara Heller
Roman, ars vivendi 2020, 312 Seiten, 22 Euro
eBook 17,99 Euro
Weiterer Buchtipp zu Ivy Pochoda
"Wonder Valley"