Alex Capus
Königskinder
Eigentlich ist die Straße zum Alpenpass bereits gesperrt, aber Max und Tina fahren trotzdem hinauf – und geraten in dichtes Schneetreiben. Irgendwann müssen sie stehenbleiben, nichts geht mehr. Und die Schneefräse wird sie erst am nächsten Morgen befreien.
Alpiner Tarzan
Max und Tina sind ein eingespieltes Ehepaar, das sich herrlich über Nichtigkeiten streiten kann – aber für die Dauer einer Nacht reicht das nicht, also schlägt Max vor, Tina eine Geschichte zu erzählen – eine wahre Geschichte und ein Märchen dazu. Aber natürlich beginnt Capus, der sich auf Fakten aus Archiven und alten Kirchenbüchern und später auch auf Besuche in Versailles stützt, seine Geschichte vom Hirtenjungen Jakob und der reichen Bauerstochter Marie nicht mit "Es war ein Mal …", sondern:
"Wir schreiben das Jahr 1779. der Jüngling ist zweiundzwanzig Jahre alt und heißt Jakob Boschung. Das Fleisch der Gemse wird er essen, aus ihren Hörnern wird er Knöpfe schnitzen und aus ihrem Fell Leder gerben und mit ihren Sehnen wird er das Leder in langen Winternächten zu Hosen, Handschuhen und Stiefeln vernähen."
Ein echter Naturbursche also, ein Einsiedler und "alpiner Tarzan", wie Tina ihn ironisch nennt, der sich nach dem Tod der Eltern und Geschwister allein durchs harte Leben kämpfen muss. Im Sommer hütet er die Kühe des reichen Bauern auf der Alm und holt sich im Herbst seinen Lohn – und einmal auch den Blick der Tochter Marie. Da ist es um beide geschehen. Aber der Bauer weiß eine Verbindung tatkräftig zu verhindern und so zieht Jakob in den Krieg.
Poetische Liebesgeschichte
Capus unterbricht seine überaus zauberhafte und poetisch erzählte Liebesgeschichte immer wieder und holt den Leser in die reale Welt von heute zurück, wenn er Tina spöttische Anmerkungen machen lässt, weil sie die Geschichte eigentlich ziemlich kitschig findet, und Max sich verteidigt:
"Dann bleiben wir also dabei, dass das junge Glück unseres Liebespaars in Gefahr ist, weil Jakob zum Militär muss. Sag selbst, klingt das nicht unfassbar doof? … Vom Krieg hat er nicht viel mitbekommen, am Ärmelkanal herrschte Frieden zur fraglichen Zeit. Man möchte gern wissen, wie Jakob dort die Zeit totgeschlagen hat … Nach Soldatenart, sagte Tina, mit Saufen, Rumhuren und Kartenspielen."
Was nicht stimmt, der beharrliche junge Mann denkt nur an seine Marie.
Abkommandiert zum Kühehüten
Max setzt sich durch, die Nacht ist lang genug, um von Elisabeth zu erzählen, der kleinen Schwester von Ludwig XVI., einer widerspenstigen jungen Frau, die so oft es geht den goldenen Käfig heimlich verlässt, schließlich ein altes Landgut, das der Bruder für sie kauft, zu einem blühenden Bauernhof machen darf und Jakob mithilfe des Königs zum Kühehüten dorthin abkommandieren lässt:
"Der erste Eindruck, den Jakob vom Schloss hat, ist der eines überwältigenden Gestanks … Schloss Versailles stinkt aufs Land hinaus wie ein gigantisches Scheißhaus. Das liegt daran, dass es ein gigantisches Scheißhaus ist. Lakaien und Höflinge verrichten ihre Notdurft … hinein in Töpfe, Krüge und Flaschen, die irgendwo entleert werden müssen ..."
Nicht nur das, es gibt noch einen anderen Gestank, der von den vielen Kerzen, offenen Feuern, rußenden Öllampen und Kaminen herrührt, "Versailles riecht, als sei es kürzlich abgebrannt. Und es sieht auch so aus. Das Schloss ist brandschwarz."
Bildstark und atmosphärisch
Es sind solche präzisen, eindrücklichen Schilderungen, die Alex Capus' Roman so wunderbar atmosphärisch und anschaulich und das Lesen so vergnüglich machen. Und weil ein bisschen Kitsch zu einer Liebesgeschichte dazugehört, schenkt uns Capus denn auch ein Happy End der "Königskinder" – im Vorfeld der revolutionären Zeiten, die rings um Versailles bedrohliche Zeichen setzen und die idyllische Beschaulichkeit von Elizabeths blühendem Bauernhof brechen.
(Christiane Schwalbe)
Alex Capus, *1961, schweizer Schriftsteller, Journalist und Autor zahlreicher Romane, Reportagen und Kurzgeschichten, lebt in Olten/Schweiz
Alex Capus "Königskinder"
Roman, Hanser, 186 Seiten, 21 Euro
eBook 15,99 Euro, AudioCD 12,52 Euro
Weiterer Buchtipp zu Alex Capus
"Der Fälscher, die Spionin und der Bombenbauer"