Susanne Röckel
Der Vogelgott
"Ich wollte diesen Vogel nicht nur benennen. Ich wollte ihn haben. Und ich sollte ihn bekommen…"
Schrecken im Alltag
Besessenheit und Gier führten den Lehrer und Tierpräparator Konrad Weyde zu einem gewaltigen, sagenhaften Vogel. Im Leben seiner drei Kinder entwickelt der Mythos des Vogelgottes einen Sog, der sie alle über den Rand ihres Lebens hinauszieht und sich im Spannungsfeld zwischen Besessenheit und Angst bewegt. In drei Teilen erzählen Weydes Kinder in unterschiedlicher Weise von den Schrecken, die in ihren Alltag einsickern oder sich gewaltsam entladen.
Dunkle Verlockungen
Thedor, der jüngste, ein verwöhnter und überspannter Studienabbrecher macht sich mit einer Hilfsorganisation in ein afrikanisches Land auf, das er immer weniger versteht. Bei seiner künstlerisch begabten Schwester Dora ist es die Faszination für einen Maler aus der Zeit des Dreißigjährigen Krieges, die sie tief in die Geschichte und ihre Rätselbilder hineinzieht, und Lorenz, der Journalist, verliert die Liebe zu seiner Frau und zum Leben, als er versucht, der unheimlichen Anziehungskraft der Vögel näherzukommen, die er bei Kindern entdeckt.
"Es gelang mir nicht mehr zu glauben, ich war nicht mehr fähig, mit liebenden Augen zu sehen…Mit dem Bewußtsein, im Innersten bedroht zu sein, warf ich mich auf das, was mir geblieben war. Ich ließ mich von jenem Dunklen locken, das sich mir gezeigt hatte."
Zurück in die Kindheit
Die Vögel, mal böse Engel, mal Geister einer gewaltsamen, unerlösten Vergangenheit tauchen in den drei Erzählungen als Spur auf, als Bilder für zivilisatorisches Versagen und die Ahnung, dass das Unglück anderer Zeiten, Schmerz und Gewalt ihren Preis fordern. Susanne Röckel, die auch als Übersetzerin arbeitet, findet für den Einbruch des Fremden eine zeitlose Sprache, die gerade im Ausblenden alles Aktuellen deutlich macht, wie durchlässig die Grenzen der Rationalität sind. Der jüngste Sohn schreibt seinen Bericht schließlich in einer psychiatrischen Station, während die Tochter auf der Suche nach dem Bild hinter dem Bild mit der Darstellung eines ermordeten Kindes in einer kleinen Kapelle fast mit der Wahrheit dieser Darstellung verschmilzt. Den ältesten Sohn Lorenz führt seine Suche zurück in die eigene Kindheit:
"Wir wissen: Wir müssen verschwinden. Wir sehen leuchtende Schatten, schwebende Federn, Botschaften des Himmels. Wir träumen, erwachen, träumen, sinken, steigen auf und lassen uns treiben. Wir spielen. Etwas anderes haben wir nie getan, zu etwas anderem taugen wir nicht."
Unheimliche Natur
Man kann den Roman auch wie einen Traum lesen, denn Röckel geht es um den "Schauder der unauflösbaren Ambivalenz", und es gelingt ihr, die Leser zu irritieren, sie von gewohnten Pfaden auch des Lesens fortzulocken in eine unheimliche Natur, die sich gegen die Menschen wendet, müde, ihre Übergriffe länger zu ertragen. Damit schlägt sie einen klugen Bogen zur Offenbarung des Johannes, als er beklagt, dass die Erde zum Hort unreiner Geister und abscheulicher Vögel geworden sei.
(Lore Kleinert)
Susanne Röckel, *1953 in Darmstadt, Schriftstellerin und Übersetzerin mit zahlreichen Auszeichnungen, lebt in München
Susanne Röckel "Der Vogelgott"
Roman, Jung und Jung 2018, 272 Seiten, 22 Euro
eBook 16,99 Euro