Maxim Biller
Sechs Koffer
Wer war Schuld am Tod des Großvaters, der in der Sowjetunion kurzerhand erschossen wurde? Eines der Familiengeheimnisse, die der Ich-Erzähler nicht mag, nicht als kleiner Junge in Prag, nicht als Vierzehnjähriger zu Besuch beim Onkel Dima in Zürich.
Shortlist Deutscher Buchpreis 2018
Verdammte Familienhölle
Und auch als erwachsener Schriftsteller in Hamburg überlässt er es seiner Schwester Jelena zu erzählen, wie es wirklich gewesen ist. Oder doch nicht? Einundfünfzig Jahre zuvor weinte der kleine Junge, weil er Angst hatte, einer seiner drei Onkel habe den Großvater umgebracht, eben dieser Dima, der selbst mal im Gefängnis saß, weil er Dollarscheine des Taten, wie alle den Großvater nennen, ungeschickt aus der Tschechoslowakei herausschmuggeln wollte. Dem Jugendlichen, der 1960 mit den Eltern nach Deutschland geflüchtet war, erzählt dieser Onkel Dima, den der Rest der Familie immer etwas bemitleidete, dass er vor allem „aus dieser gottverdammten Familienhölle, in die wir uns zusammen verirrt hatten“, fliehen wollte, und auf die Frage, wer ihn verraten hatte, weint er.
Vorgelesen
Maxim Billers Roman gibt keine Antwort auf die Frage nach Schuld und Verrat, weil es ihm um etwas ganz anderes geht: die Verstrickungen aller Familienmitglieder untereinander gerade durch die Geschichten, die man besser verschweigt, denn das jüdische Leben im Osten Europas erlebte man auch nach dem Ende des Krieges und der Niederlage Nazideutschlands als bedroht, und auch, als die Familie sich nach Westeuropa absetzte, änderte sich daran nichts. Virtuos entwickelt Biller aus der Perspektive des Jungen, wie sich die Angst zum ständigen Begleiter macht, denn der Schrecken der Vergangenheit hat sich viel früher schon subkutan festgesetzt und wird nicht geringer, wenn man ihn verdrängt.
"Und dann fiel mir plötzlich ein, dass ich früher als Kind in Prag immer Angst gehabt hatte, mein ganzes Leben sei eine Geschichte, die Spejbl seinem Sohn Hurvinek zum Einschlafen vorlas, und dass Spejbl eines Tages das Buch mit meiner Geschichte zumachen und mein Leben dadurch zu Ende gehen würde".
Im blauen Kleid
Die Mitglieder dieser entwurzelten Familie, auch das entwirft Maxim Biller in schnörkelloser und doch den Gefühlen sehr naher Sprache, sind Experten für's Überleben und für die Traurigkeit, für liebevolle Streitigkeiten ebenso wie für tiefste Zerwürfnisse. Die schöne Natalia war die Geliebte des Vaters, bevor sie später dann den jüngeren Bruder Dima heiratete und schließlich in Zürich vor einem Lastwagen sprang. Der Zehnjährige fürchtete, seine tschechische Sprache zu verlieren, als er mit den Eltern nach Hamburg floh. Als die Mutter als junge Frau ihrem Verlobten aus Russland nach Prag folgte, nachdem er Natalia nicht geheiratet hatte, kaufte sie ein blaues Kleid und ging auf die Karlsbrücke,
"... und plötzlich merkte sie, dass sie immer noch der traurigste Mensch der Welt war – und dass kein Kleid und kein neues Land daran etwas ändern konnten. Das war, als hätte sie da schon in ihre Zukunft geschaut, lange bevor sie meine Schwester und mich bekommen hatte".
Innere Bilder
Als die Eltern nach dem Ende des Sozialismus zeitweilig wieder eine Wohnung in Prag beziehen, erkennt die Schwester des Erzählers, Jelena, „dass sie endgültig in der sie beschützenden Vergangenheit angekommen waren.“ Wenn nichts anderes zum Schutz dient, können auch die aufgefrischten Farben einer schönen Stadt, nachdem das "sozialistischen Terrorgrau" verschwand, zum Trost und zu einer Verbindung mit dem früheren Leben werden und die Erinnerung erleichtern. Beobachtungen wie diese verbindet Biller zu einer reichen und dezenten Erkundung des Raumes, der sich in einer bestimmten Epoche für diese jüdische Familie ergab, und aus dem sich nach und nach deutliche innere Bilder entwickeln, unscharf und doch von großer Tiefe. Durch die Fehlstellen, die Leere um die Erinnerungsausschnitte herum, beschwört er das Abwesende, Unsagbare, das die greifbaren Dinge im Leben dieser Menschen in neuem Licht erscheinen lässt. Sein Roman sensibilisiert für die Erschütterungen, die hinter ihnen liegen und weiterwirken, mit Melancholie und Witz.
(Lore Kleinert)
Maxim Biller, *1960 in Prag, deutscher Schriftsteller und Kolumnist, lebt in Berlin
Maxim Biller "Sechs Koffer"
Roman, KiWi Kiepenheuer & Witsch 2018, 208 Seiten, 19 Euro
eBook 16,99 Euro, AudioCD 19,95 Euro
Weiterer Buchtipp zu Maxim Biller
"Im Kopf von Bruno Schulz"