Antje Rávik Strubel
Blaue Frau
Deutscher Buchpreis 2021
„Ich wuchs im Niemandsland des Systemwechsels auf. Also bin ich ein echtes Revolutionskind.“ Das Niemandsland war nur in ihrem Kopf. Für die Revolution war sie zu klein gewesen. Aber sie erinnerte sich an den Schriftsteller, der Präsident gewesen war. Mit einem Schriftstellerpräsidenten war das Leben wie ein Buch, und in einem Buch starben die Menschen nicht wirklich.
Gerechtigkeit
Adina Schejbal aus Harrachov auf der tschechischen Seite des Riesengebirges ist eine Überlebende, nicht so sehr des Systemwechsels, sondern massiver sexueller Gewalt. Doch das erschließt sich in diesem kunstvoll konstruierten Roman erst ganz allmählich, indem Schicht für Schicht im Leben der jungen Frau behutsam sichtbar gemacht wird. Mit einundzwanzig Jahren verlässt sie ihr Wintersportdorf, um in Berlin Deutsch zu lernen. In Finnland schlägt sie sich anderthalb Jahre später als Geschirrwäscherin und Tresenhilfe durch, bis sie Leonides kennenlernt, einen freundlichen Diplomaten und Professor aus Estland. Im Auftrag der EU will er für Gerechtigkeit sorgen und die „Dunkelstellen der Geschichte“, vor allem des Stalinismus, aufklären.
Globaler Mensch
Adina lädt er zu sich ein, denn ihre Dunkelstellen und mit ihnen den Schmerz spürt er, ohne ihr jedoch wirklich nahekommen zu können. Für ihn ist sie Sala, und sie nimmt die „Atempause“, die er ihr bietet, zunächst an.
„Ich bin nie dort, wo ich gerade bin“, sagte er. „Bevor ich irgendwo ankomme, muss ich schon wieder los. Das nennt man wohl den globalen Menschen.“ Nicht unbedingt.“ „Nein?“ „Manchmal ist man bloß nicht da, weil einen dort, wo man ist, niemand kennt.“
Als er sie auf einen Empfang mitnimmt, reißt sie die Stimme ihres Vergewaltigers, eines hohen deutschen Kulturmanagers, aus der Atempause jäh heraus, sie verliert den fragilen Halt, schneidet sich die Haare ab, flüchtet.
„Am Hinterkopf ertastet sie zwei kahle Stellen. Da hat sie mit der Küchenschere zu ruppig hantiert. Aber jetzt, wo die Haare ab sind, ist nichts mehr da, um sie festzuhalten.“
Rückkehr in die Kindheit
Antje Ravik Strubel, die auch Joan Didion und Lucia Berlin übersetzt hat, spürt den Schockwellen nach, die Adina/Salas Leben zersprengt und versehrt haben. Behutsam und mit großer Ruhe entwirft sie das beschädigte Selbstgefühl der jungen Frau, die in Helsinki damit kämpft, ob sie ihren Peiniger anzeigen wird oder einen anderen Weg findet. Weiterleben bedeutet hier, zurückzukehren, in die Kindheit, als Adina in der Figur des ‚Letzten Mohikaners‘ von James Fenimore Cooper Halt fand und ihn später immer wieder als inneres Schutzsymbol zurückzugewinnen sucht. Schon in Berlin erkannte sie sich in den Bildern der Fotokünstlerin Rickie zunächst kaum wieder, denn sie spiegeln ihre Unsicherheit, und die aufgedrehte Alternativszene der lesbischen Frauen bleibt Adina fremd.
„Eine weiße Unschärfe, das war ihr Gesicht. Im Hemd steckte ein Körper, der bei den Aufnahmen verborgen gewesen war, jedenfalls hatte Adina das geglaubt. Der Körper sah verwaschen aus und war nicht ihrer. Das war nicht der Körper, den sie an sich oder um sich herum spürte, oder wie immer man dazu sagen sollte. Sie war es, die auf dem Stuhl vor der Kamera gesessen hatte, mit einem Körper, den sie an sich oder um sich spürte, und nun war es ein anderer.“
Ein Praktikum in der Uckermark führt sie in ein ambitioniertes Projekt, das zur Falle wird: Ein ostdeutscher Selfmademan will ein heruntergekommenes Gut zum kulturellen Leuchtturm fürs Oderland umgestalten, mit Hilfe reicher Sponsoren und der EU. Man nennt sie hier Nina, „jung und belastbar“ und bald ebenso ein Opfer wie die Frauen aus Osteuropa, deren Körper ganz nebenbei systematisch ausgebeutet werden.
Respekt vor dem Leben
Die Autorin findet eine gleichermaßen distanzierte wie empathische Sprache für die Bewegung auf schwankendem Boden, die Adina/Sala/Nina sich abringt und immer wieder auf ihre Tauglichkeit prüft. Die „blaue Frau“ erscheint dabei zwischen den größeren Abschnitten als Erzählerin oder auch Beschützerin, als Mittlerin und Beobachterin, mal näher bei der literarischen Figur, mal als Korrektiv der Autorin selbst, die sich ebenfalls zeigt:
„Ob ich nicht wisse, dass das Leben und das Erzählte verschiedene Dinge seien. Eine Figur gebe bestenfalls Auskunft über ihre Urheberin. Über die, die sie erfunden habe. Nur wenn ich wissen wolle, was es bedeutet habe, ich zu sein, ergebe meine Frage Sinn.“
Die Frage bezieht sich auf den Umgang der Schriftsteller mit ihren Figuren und beinhaltet eine Reflektion über den Respekt vor dem Leben, über das erzählt wird. Antje Ravik Strubel lässt es nicht daran fehlen. Sie überblendet die jähen Erinnerungen an das Trauma mit scheinbar nebensächlichen Begebenheiten und Beobachtungen, mit denen sich ihre Heldin in der Welt zu verorten sucht, einer Welt politischer Brüche und Verschiebungen im Machtgefüge. Die lineale Zeit wird außer Kraft gesetzt und gibt der Innenwelt Raum, in der Adina zu sich selbst, zum ‚kleinen Mohikaner‘ zurückfindet.
Die blaue Frau hat in Ravik Strubels klugem, vielschichtigen Roman das letzte Wort zu Salas Geschichte:
„Sie hatte gelernt, sich zu wehren. Sie ließ das Gewöhnliche hinter sich. Sie hat es verstanden, den Konventionen des Gewöhnlichen zu entgehen.“
(Lore Kleinert)
Antje Rávik Strubel, *1974 in Potsdam, mehrfach ausgezeichnete Autorin, lebt in Potsdam
Antje Rávik Strubel „Blaue Frau“
Roman, S. Fischer Verlag 2021, 432 Seiten, 24 Euro
eBook 19,99 Euro, AudioCD 17,31 Euro