Mithu Sanyal
Identitti
Shortlist deutscher Buchpreis 2021
Nivedita ist eine „Person of Colour” - geboren in Deutschland, der Vater ein Inder. Politisch korrekt ist sie eine BiPoc, eine „Black Indigenious Person of Colour". Auch wenn es einfachere Beschreibungen für sie gäbe, Nivedita hätte kein klares Identitätsbewußtsein.
Wonder-Woman
Sie hadert mit ihrem Verhältnis zu Deutschland und Indien, „meinen beiden Heimatländern”, hat keinen Bock auf Klischees welcher Hautfarbe auch immer, nennt ihren Blog „Identitti” und schreibt als „Mixed-Race-Wonder-Woman” auch über ihre Gespräche mit ihrer wichtigsten Ratgeberin - nicht von ungefähr ist das die indische Göttin Kali, im hinduistischen Glauben Symbol des Todes und der Zerstörung, die eine Kette aus abgeschnittenen Männerköpfen trägt:
„Sie ist dunkel. Also schwarz. Manchmal auch dunkelblau oder dunkelbraun, und ich habe sie auch schon mal in dunkelgrün gesehen. Doch vor allem eines ist sie definitiv nicht: weiß.”
Alle Weißen raus
Es gibt eine zweite, ganz leibhaftige Göttin, die erheblichen Einluß auf Niveditas Leben hat, und das ist ihre Lieblings-Professorin Dr. Saraswati, ebenfalls eine Person of Colour. Zumindest, was ihre Hautfarbe betrifft. Ihr Bestseller „Decolonize your Soul” liegt zwar schon einige Jahre zurück, aber dem Thema bleibt sie treu, lehrt Postcolonial Studies an der Uni Düsseldorf und nimmt den Begriff Colour wörtlich: Weiße Student*innen haben in ihren Vorlesungen nichts zu suchen, sie fliegen raus.
„Saraswati drehte sich perfekt durchchoreografiert um, hob die Brille, die an einer Kette um ihren Hals baumelte, vor die Augen und begutachtete mit gerunzelter Stirn die Reihen von Studierenden: „Okay, erst einmal alle Weißen raus.” ... Dieses Seminar ist nur für Students of Colour.”
Nivedita ist ihre Lieblingsstudentin, die sich in ihren Vorlesungen aufgehoben und verstanden fühlt. Ihre lebenslustige Cousine Priti, die ein höchst unkonventionelles Liebesleben führt und „junge Frauen, ältere Männer und Trans-Menschen jeden Alters" mag, reißt Nivedita plötzlich aus all' ihren Zweifeln, Defiziten und Identitätsproblemen mit der Nachricht, dass Saraswati vor Jahrzehnten nicht nur ihren ursprüglichen Namen, sondern auch ihre Hautfarbe geändert hat: Sie ist weiß.
Wunderwelt Identitätspolitik
Unter #SaraswatiShame geht in den sozialen Medien ein gnadenloser Shitstorm los, an dem sich Nivedita, zutiefst erschüttert, enttäuscht und wütend, nicht beteiligt. Sie will es genau wissen, bezieht das Gästezimmer der Professorin im schicken Penthouse und will Saraswatis wahre Motive herausfinden. Auch in dieser elitären Atmosphäre trifft sie nicht nur auf die Professorin, an der der Protest gegen sie scheinbar spurlos vorüber geht, sondern auch auf deren Bruder und Menschen, die versuchen, sich in all' diesen Zugehörigkeitsdiskussionen irgendwie zurechtzufinden und so etwas wie eine innere Heimat zu finden.
„.. das 'Phantasma race' ist nicht nur 'da draußen', sondern 'hier drinnen': Es steckt in unseren Köpfen und Körpern und Seelen, ist so vehement Teil unseres gemeinsamen gesellschaftlichen Selbstverständnisses und staatlichen Handelns, dass genau das dringend nottut, was Saraswati 'Decolonizing' nennen würde."
Spielerisch und radikal
Es geht in diesem übermütigen und schrägen Roman um Hautfarbe, soziale Zugehörigkeit und kulturelle Identität. Es geht aber auch um Sex, Liebe und Freundschaft, um divers und queer, um Gender und Sprache, und um die Schwierigkeit, sich in der „Wunderwelt der Identitätspolitik" zurechtzufinden. Mithu Sanyal jongliert im Prozeß von Niveditas Selbstfindung souverän und entlarvend mit neuen und alten Klischees, mit kultureller Zugehörigkeit und kolonialer Vergangenheit mit political correctness in Akademikerkreisen und hate speech in den sozialen Medien, mit gesellschaftlichen Zuordnungen und sozialer Verlorenheit. Spielerisch und radikal, bitterernst und humorvoll, klug, (selbst)ironisch und faktenreich läßt sie in zugespitzten Dialogen buchstäblich die Fetzen fliegen und versöhnt sich im Gespräch mit Kali immer wieder mit sich selbst.
Und um die Vielstimmigkeit dieses Prozesses widerzuspiegeln, hat sie sich von prominenten Spender*innen Tweets, Instagram- und Facebook-Einträge verfassen lassen, „so wie sie sie womöglich spontan getextet hätten, wenn sie eines Tages oder Nachts im Internet von einem 'Fall Saraswati' gelesen hätten." Ein vielfarbiges und vergnügliches Buch über die Identitätsdebatte.
(Christiane Schwalbe)
Mithu Sanyal, *1971 in Düsseldorf, ist Kulturwissenschaftlerin, Journalistin und Autorin von Büchern und Hörspielen, lebt in Düsseldorf.
Mithu Sanyal „Identitti"
Roman. Hanser-Verlag, 432 Seiten, 22 Euro
eBook 16,99 Euro, Multimedia-CD 20 Euro