Benedict Wells
Hard Land
„Entdecke die 49 Geheimnisse von Grady" steht auf einem Schild am Stadtrand von Grady, einer Kleinstadt in Missouri. Ein verlockender Satz, nur kennt niemand diese Geheimnisse.
Zum Weglaufen
Auch Sam nicht, er ist einsam, ein Außenseiter, der unter einer „peinlichen Angststörung" leidet, zum Vater keine wirkliche Beziehung hat und ständig besorgt ist um seine schwerkranke Mutter, der die Buchhandlung „Best Books" gehört. Die Eltern wollen ihn in den Ferien zu Cousins nach Kansas schicken, aber Sam sucht sich lieber einen Job im alten Kino der Stadt: Filme in den Projektor einlegen, Tickets verkaufen und die Popcornmaschine bedienen, ohne sich die Finger zu verbrennen. Keine allzu anspruchsvollen Aufgaben für einen fast 16jährigen, der Grady „zum Weglaufen" findet, ein
„Siebzehntausend-Einwohner-Kaff mit roten Backsteinhäusern, Ahornbäumen und altmodischen Läden auf der Main Street. Als würde man eine Postkarte aus den Fünfzigern betreten. ... Hier kannte jeder jeden."
Bis vor zwei Jahren gab es hier eine Textilfabrik, größter Arbeitgeber der Stadt. Als sie geschlossen wurde, weil aufgekauft von einer größeren Firma, die lieber im Ausland produzierte, war ein Großteil der Einwohner mit einem Schlag arbeitslos, auch Sams Vater:
„Die Fabrik hatte Grady über Generationen hinweg ernährt, nun hatte sie sich in eine Art schwarzes Loch verwandelt."
Zwischen Liebe und Tod
Sam trifft die blonde Kirstie aus der Highschool. Mit ihr beginnt ein abenteuerlicher Sommer mit allem, was eine Coming of Age-Geschichte braucht, die in den 1980er Jahren spielt, noch ganz ohne Smartphone und Social Media auskommen muss, dafür mit legendären Songs und Filmen aus dieser Zeit spielen kann. Sam hat weder mit Mädchen noch mit Alkohol Erfahrungen, auch das wird sich ändern, denn:
„In diesem Sommer verliebte ich mich und meine Mutter starb."
Kirstie trifft sich regelmäßig mit zwei anderen Jungs, die drei nehmen den eher unbeholfenen Sam in ihre Clique auf, plötzlich hat er Freunde, wird akzeptiert, und als er sich neue Klamotten kauft, fühlt er sich wie ein anderer Mensch. Und doch lauert hinter all' den neuen Gefühlen von Zugehörigkeit, Glück und Stolz die Angst um seine kranke Mutter.
Trauer ist ein Marathon
Mit ihrem Tod muss er einen schweren und tiefgehenden Schicksalsschlag aushalten, ausgerechnet an seinem 16. Geburtstag, den er – zum ersten Mal – nicht brav mit seinen Eltern verbringt. Und er macht die bittere Erfahrung:
„Ich dachte nur noch von Tag zu Tag und allmählich begriff ich: Trauer ist kein Sprint, Trauer ist ein Marathon."
Benedict Wells weiß, wie man gute Geschichten schreibt, er hat ein Gespür für die innere Zerrissenheit seines jungen Protagonisten, kennt sich aus mit der schwierigen Balance zwischen Glück und Tragik, Freude und Schmerz und mit diesem schwer definierbaren Gefühl, das im Roman „Euphancholie" heißt und die besondere Mischung aus Euphorie und Melancholie meint:
„Einerseits zerreißt’s dich vor Glück, gleichzeitig bist du schwermütig, weil du weißt, dass du was verlierst oder dieser Augenblick mal vorbei sein wird." Wie der magische Sommer der ersten Liebe.
(Christiane Schwalbe)
Benedict Wells, *1984 in München, Autor mehrerer Romane, die in 38 Sprachen erschienen sind, lebte ab 2003 in Berlin, jetzt in Zürich
Benedict Wells „Hard Land"
Diogenes 2021, 352 Seiten, 24 Euro
eBook 22,99 Euro