Hans von Trotha
Pollaks Arm
„Nicht zu wissen, wie eine Reise endet, sagt er, ist kein Grund, sie nicht anzutreten.“ Doch weil man im Vatikan weiß, dass diese Reise Ludwig Pollak in den Tod führen wird, versucht der deutsche Lehrer K., den Kunsthändler und Sammler und seine Familie zum Mitkommen zu bewegen, um ihn in Sicherheit zu bringen. K. berichtet seinem Auftraggeber, Monsignore M., warum seine Mission erfolglos blieb, an diesem Vorabend des 16. Oktober 1943.
Letzte Chance
Eintausendzweihundertundfünfundneunzig Menschen werden im Morgengrauen in Rom zusammengetrieben, sechzehn von ihnen werden Auschwitz überleben. Ludwig Pollak aber macht K. zum Zeugen, indem er ihm sein Leben erzählt, ihn immer weiter hineinzieht in die Substanz dessen, was ihn als Kunsthändler, als Kenner antiker Werke und als Sammler etwa von Goethes Autographen ausmacht. Hans von Trotha lässt uns an der Ungeduld und dem verständlichen Drängen des Besuchers intensiv teilhaben, denn heutige Leser wissen, dass dies die letzte Chance zur Rettung gewesen wäre. Zugleich zieht K.s Erzählung uns in den Bann, denn er schildert minutiös, wie Pollak mit der Erinnerung die Gegenwart vor sich hertreibt und ihn mit dem, was er hört, gefangen nimmt, - und damit auch uns als Leser und Leserinnen:
„Man muss Rechenschaft ablegen, sagte er. Gerade, wenn es zu Ende geht. Man muss erzählen. Man muss es aufschreiben. Man muss dafür sorgen, dass die Erinnerung bleibt, damit andere sich erinnern können, wenn man selbst das nicht mehr kann. Sonst wird man vergessen und mit einem alles, was einem je wichtig war. Dann war alles umsonst.“
Rom - ein Jugendtraum
Ludwig Pollak, der zum Zeitpunkt dieses fiktiven Gesprächs und seiner Deportation fünfundsiebzig Jahre alt war, hat seine Erinnerungen in Tagebüchern festgehalten, die der Autor im Museo Barracco zusammen mit zahlreichen Archivalien studiert hat. Sie sind die Grundlage dieses klug komponierten Romans, der den alten Mann in seiner geliebten Stadt Rom, seiner „Terra benedetta“ als Erzähler seines Lebens lebendig werden lässt: Hier fand er die außergewöhnlichen Sammlerstücke, die ihn als Kunsthändler berühmt machten, und auch hier musste er erkennen, dass Rassismus und Antisemitismus ihn einholten. An Goethes achtzigstem Todestag lud er zu einem großen, festlichen Essen, mit einer Ausstellung seiner Autographen.
„Zur Hundertjahrfeier dann, also zum 100. Todestag, zweiunddreißig, bot Pollak der Stadt seine Autographen für eine Ausstellung an. Da wollte man sie nicht mehr. Nicht von ihm.“
Ausgrenzung hatte er als Jude schon früh erfahren, als ihm nach dem Studium der Archäologie in Prag eine akademische Karriere verschlossen blieb, doch in Rom, zwischen dessen „Denkmälern zu taumeln“ sein Jugendtraum war, errang er einen ehrenvollen Platz unter den Sammlern und Händlern.
„Es ist eine Welt für sich, eine eigene, in den Augen derer, die dazugehören, besonders verdienstvolle Weise, Wissenschaft zu betreiben, und zwar außerhalb der Universität. Es ist Dienst an der Wissenschaft von denen, die die Wissenschaft nicht in ihre Reihen aufgenommen hat. Es ist die Welt der großen Kennerschaft, das Feld der Genies im Hintergrund, der Brillanten in der zweiten Reihe, ein heimlicher Wettstreit unter weithin unbekannten Größen.“
Begeisterung für Goethe
Man erfährt, angenehm gebrochen durch die bisweilen dezent ironischen Anmerkungen des Monsignore, von Pollaks Begeisterung für Goethe, dessen Werk zum Herz seiner Sammlung wurde. Er blättert in Briefen und Katalogen, die er als Vermächtnis der Sammler betrachtet, und sein Gast verweist immer wieder auf die wachsende Gefahr, vergeblich. Und schließlich, erst nach vielen aufschlussreichen Abschweifungen und Umwegen, die ebenso faszinieren wie – wegen der verstreichenden Zeit - beängstigen, kommt er auf den Fund zu sprechen, der ihn berühmt machte: Vierhundert Jahre nachdem die Laokoongruppe aufgefunden wurde, erkannte Pollak an einer Ausgrabungsstätte in einem Bruchstück den fehlenden Marmorarm, erwarb ihn und übergab ihn dem Vatikan, und man ernannte ihn zum ordentlichen Mitglied des Deutschen Archäologischen Instituts.
Unbegreifliche Verfolgung
Doch Neid und Bosheit führten dennoch immer wieder zu Anfeindungen, auch das verdichtet sich zu einem Grundton in Pollaks Erinnerungen, und ihm war sehr wohl bewusst, wie sehr sich für den unerwünschten Juden der Wind gedreht hat. Die Laokoongruppe wird ihm zum Sinnbild für unverdientes Leid und unbegreifliche Verfolgung. Hans von Trotha ist mit seinem Roman eine ungemein dichte Annäherung an das Lebensgefühl eines bedeutenden Kunstkenners gelungen, eines Juden, der die europäische Kultur verkörperte und vom nationalistischen Ungeist und seinen rassistischen Sachwaltern ermordet wurde.
„Gegen Schlangen, die die Götter schicken, gewinnt der Mensch nicht, nicht in dieser Welt.“
(Lore Kleinert)
Hans von Trotha, *1965, deutscher Historiker, Schriftsteller und Journalist , lebt in Berlin
Hans von Trotha „Pollaks Arm“
Roman, Verlag Klaus Wagenbach Berlin 2021, 144 Seiten, 18 Euro