Juli Zeh
Über Menschen
Dora will raus aus der Stadt, weg von Robert, ihrem Freund, dem Journalisten, Aktivisten und fanatischen Klimaretter, nun auch manischer Corona-Lockdown-Verteidiger, der erfolgreich schlaue Kommentare schreibt und Dora verbieten will, mit dem Hund Gassi zu gehen.
Freiheit auf dem Land
Es reicht. Die erfolgreiche Werbetexterin fühlt sich von Robert, Corona und dem beharrlichen Denken in Projekten komplett überfordert, verläßt den Bedenkenträger und Perfektionisten, der sich „in die Apokalypse verliebt hat", sucht Zuflucht und Freiheit in einem verfallenen Landhaus, das sie vor sechs Monaten gekauft hat - mit „Flurstück", wie es im Grundbuch heißt, in Bracken, einem Dorf in der brandenburgischen Provinz:
„Ein typisches ostdeutsches Straßendorf. In der Mitte eine Kirche mit Dorfplatz. Bushaltestelle, Feuerwehr, Briefkasten. 284 Einwohner. Mit Dora 285, wobei sie noch nicht beim Meldeamt gewesen ist. Das hat wegen Corona geschlossen.... Bracken, es klingt wie eine Mischung aus Brachen und Baracken."
Ihr neues Dominzil ist zwar keine Baracke, aber eine Bruchbude, der Garten völlig verwildert. Hier kann sie den ewigen Zwang zur Selbstoptimierung abarbeiten. Begrüßt wird sie von einem Mann mit Glatze und Tatoos, Gottfried, genannt Gote, der auf der anderen Seite einer Mauer steht, die die Grundstücke trennt
„Ich bin hier der Dorfnazi. ... Wenn dein Köter noch einmal meine Saatkartoffeln ausgräbt, trete ich ihn platt." Und wirft ihre Mischlingshündin über die Mauer.
Kampf dem Ahornschössling
Ein eindeutiger Empfang. Die AfD ist in der Gemeinde stark, nicht nur Rechtsradikale wählen sie. Die nächste Begegnung ist zwar freundlicher, aber nicht weniger bizarr: R2-D2. Der Typ hat zwei Geheimwaffen dabei, mit denen er ihr Flurstück nachhaltig von Ahornschösslingen und sonstigem Wildwuchs befreit
„Das Wesen ist höchsten 1,60 Meter hoch, trägt einen Helm mit Visier und integrierten Ohrenschützern, eine Sicherheitsweste, die bis zu den Knien reicht, und Gummistiefel, die, von unten kommend, an derselben Stelle enden."
Er macht rassistische Witze und stellt ihr weitere Dorfbewohner vor: Die „Pflanzenkanacken", die bei Steffen und Tom arbeiten, einem schwulen Paar, das mit dem Verkauf von kleinen Gestecken aus Trockenblumen ihre Gärtnerei über Wasser hält. Es sind allerdings keine Flüchtlinge, wie Dora vermutet, sondern Ersamus-Studenten aus Portugal. Und dann ist da noch Franzi, die sich in Doras Hündin verliebt und fortan regelmäßig vorbei kommt. Es ist Gotes Tochter, von ihrer Mutter auf's Land geschickt – Corona-Ferien beim Vater. Der sitzt mit ein paar Kumpels im Garten und gröhlt das Horst-Wessel-Lied, hat Dora aber auch ungefragt selbstgezimmerte Möbel ins Haus gestellt und sie mit seinem Pick Up aufgegabelt, als sie mit ihren Einkäufen verzweifelt auf den Bus wartet.
Raumforderung im Kopf
Aus dem anfänglichen Vorurteil gegen den rechtsradikalen Nachbarn wird ein diffuses Interesse, das als pädagogische Bekehrung, aber auch als Sympathie für den Nachbarn gedeutet werden kann. Juli Zeh bricht das gängige Klischee vom bösen Nazi, lässt zu, was nach herkömmlicher Moral ein Unding ist: Die linksliberale Dora, Typ erfolgreiche Frau, die umweltbewusst lebt, und gerade an einer Werbekampagne für FAIRkleidung unter dem Namen „Gutmensch" arbeitet und der rechtsradikale Gote lernen sich näher kennen, vielleicht kann sie ihn rausholen aus der rechten Ecke. Als Dora von der „Raumforderung" in seinem Kopf erfährt, einem Hirntumor, wird es dramatisch.
Mikrokosmos Dorf
Wie „Unterleuten" spielt auch „Über Menschen" im Mikrokosmos Dorf, jeder kennt und beobachtet jeden, es wird gehetzt und getratscht und, wenn nötig, auch ausgegrenzt. Und doch funktioniert hier Gemeinschaft, inklusive Dorffunk. Corona ist da, zugleich aber weit weg, rückt einem draußen an der frischen Luft deutlich weniger auf die Pelle als in der Großstadt. Juli Zeh macht ihre Dora zur teilnehmenden Beobachterin, die keine Vorurteile bestätigt finden will, sondern interessiert zuschaut und pragmatisch urteilt. Kurzzeitig zurück in der Stadt
„begreift sie mit einem Mal, dass der Clash of Civilizations tatsächlich existiert. Nur nicht zwischen Morgen- und Abendland. Sondern zwischen Berlin und Bracken. Zwischen Metropole und Provinz, Zentrum und Peripherie."
Zumindest gibt es ihn hier auch. Und das ist klug und gut beobachtet, kurzweilig und spannend zu lesen.
(Christiane Schwalbe)
Juli Zeh *1974 in Bonn, dt. Schriftstellerin und Juristin, lebt im Kreis Havelland/Brandenburg
Juli Zeh „Über Menschen"
Roman, Luchterhand München 2021, 416 Seiten, 22 Euro
eBook 17,90 Euro, AudioCD 17,99 Euro
Weitere Buchtipps zu Juli Zeh
"Zwischen Welten"
"Neujahr"
"Leere Herzen"
"Unterleuten"
"Corpus Delicti" - Ein Prozess