Ulrike Edschmid
Levys Testament
London 1972: Die Erzählerin verliebt sich in ‚den Engländer‘, der wie sie in der Protestbewegung dieser Jahre nach Antworten auf existentielle Fragen sucht, angetrieben von der Sehnsucht nach einem anderen, sinnvollen Leben.
Nirgendwo heimisch
„Was sind das für Menschen, die Millionen Juden umgebracht haben?“, das ist eine dieser Fragen, die ihn sein Leben lang begleiten wird. Er studiert Philosophie, hat eine gute Schule besucht, weil er beste Leistungen lieferte, dennoch: „Du wirst nie dazugehören“, hatte ihm seine Mutter mit auf den Weg gegeben, „du bist Jude und wirst es immer bleiben“. Solidarität mit verhafteten Aktivisten der Angry Brigade, einer anarchistischen Gruppe gehört zu diesem Leben, Musik, Bücher und Reisen nähren eine schöne, sanfte Liebe, deren Ende sich allmählich abzeichnet.
Der Engländer, ein Jude aus einer vor zwei Generationen nach England eingewanderten Familie wird nirgendwo heimisch, leidet darunter, mauert sich ein. Auch das gemeinsame Leben in Berlin hält ihn nicht.
„Die Wohnung, in der wir seit sechs Jahren leben, ist für ihn kein Ort geworden. Er war in meine Welt gekommen, doch ich nicht in die seine. Seine Welt ist eine Durchgangsstation, wohin, das weiß er nicht zu sagen.“
Geheime Zusammenkünfte
Ulrike Edschmid schöpft aus eigener Erfahrung, wie in all ihren Romanen, und sie erschafft diese Liebe mit Diskretion und leuchtender Intensität neu, um sie dann zu verwandeln: Sie begleitet die Suche des Mannes weiter. Sie verklärt das Lebensgefühl, das beide mit vielen anderen ihrer Generation teilten, nicht und beschwört dennoch Erinnerungen, die sie nicht verrät. Etwa, wenn sie sich an Orte erinnert, die Wohnungen anderer, in denen sie damals, in London, Zeit verbrachten:
„Aber noch immer ist in den Zimmern ein Lebensgefühl gegenwärtig, das die Polizei nicht ausräumen konnte. Geheime Zusammenkünfte, verschlüsselte Gespräche, aber auch Aufbruch zu neuen Welten und Sehnsucht nach einem anderen Leben. In den Regalen Bücher, die nicht als Beweismittel taugten, uns aber einmal den Weg gewiesen haben“.
Suche nach Halt
Namen wie Frantz Fanon, Laing und Cooper, Wilhelm Reich stehen für die geistigen Abenteuer der frühen siebziger Jahre, auch wenn sie heute Jüngeren kaum mehr bekannt sind. Der Abschied voneinander und von dieser Jugend ist schmerzlich, und Ulrike Edschmids große Kunst besteht auch darin, ihre Figuren diskret zu zeichnen, sie genau zu beobachten und bei aller Intimität niemals auszuliefern.
„Mit nacktem Bauch steht er da, wie ein verlorenes, aus den Kleidern herausgewachsenes Kind. Wenn ich gekonnt hätte, wäre ich, als er dort stand, zu ihm zurückgekehrt. Aber ich konnte es nicht, und es war nur ein Augenblick…Als wir uns wieder begegnen, ist eine Freundschaft entstanden, die uns länger begleiten wird, als es Liebe und Verlangen je vermocht hätten.“
Dieser Freundschaft verdankt sich die bleibende Nähe zur Suche des ‚Engländers‘ nach Wurzeln und Halt, für den der Regisseur Brian Michaels das Vorbild bot. Der mit den Jahren gefragte Theatermacher stößt schließlich auf die Geschichte seines Urgroßvaters, eines betrügerischen Geschäftsmannes, der einen seiner Söhne statt seiner ins Gefängnis brachte. Welche Wirkung dies auf seinen Großvater, den Vater und ihn selbst hatte, wird den ‚Engländer‘ nicht mehr loslassen. Alte Fotografien bieten die vielleicht einzige Möglichkeit der Annäherung, denn Ulrike Edschmid entwirft keine Theorien über die Figuren, sondern Skizzen, die den Lesern erlauben, das ganze Bild zu erspüren: Der Großvater, ein „kleiner Mann mit unsicherem Blick“, stumm hat er gelebt „und ist stumm aus der Familie und der Welt verschwunden“. Der Vater, der seine Frau ein Leben lang anbetet und ihr doch nie genügen wird, - auf den wenigen Familienfotos steht er immer abseits, immer am Rand.
Abstand zur Wirklichkeit
Mit ihrem englischen Freund und durch ihn hindurch spürt Ulrike Edschmid dem Schmerz nach, den sein Vater mit ins Grab nahm. „They did not look after me“ waren die einzigen Worte, die er je über seine Verwandtschaft sagte, und der erfolgreiche Regisseur, der überall in Europa inszeniert und Studenten ausbildet, findet ebenso wenig wie er einen Weg zurück zu seiner jüdischen Familie. Was die Geschichte zerstört hat, verwebt die Autorin in unpathetischer Sprache zu einem berührenden Roman über das Leben, das Antworten auf die Frage nach dem Warum verweigert. Damit gelingt ihr ein Erinnerungstext, der Abstand zur Wirklichkeit hält und umso mehr unter die Haut geht.
(Lore Kleinert)
Ulrike Edschmid, *1940 in Berlin, deutsche Schriftstellerin und Textilkünstlerin, lebt in Berlin
Ulrike Edschmid „Levys Testament“
Roman, Suhrkamp Verlag 2021, 144 Seiten, 20 Euro
eBook 16,99 Euro