Ilia Vasella
Windstill
Südfrankreich im Sommer – blauer Himmel, strahlende Sonne, weite Landschaft. Es ist heiß, die Luft flimmert, in der Mittagshitze zieht man sich lieber in die Kühle dicker Schlossmauern zurück oder sucht Schatten unter Bäumen.
Sommer im Schloss
„Ein leicht vergammeltes Landschloss, bestückt mit zusammengewürfeltem Mobiliar vom Flohmarkt und vom Abbruch, das scheinbar zufällig, von Pierre jedoch peinlich genau inszeniert, einen losen Charme ausstrahlt.”
Pierre ist Maler und der Besitzer dieses in die Jahre gekommenen Hauses, mit seinem kleinen Sohn verbringt er hier jeden Sommer, zusammen mit anderen Gästen, an die er Zimmer vermietet. Franz und Marie, seit 20 Jahren ein Paar, sind Stammgäste geworden, andere machen hier mit ihren Kindern unbeschwert Urlaub. Es ist eine idyllische Gegend, fernab üblicher Touristenströme. Abends wird gemeinsam gekocht und an einer langen Tafel gegessen.
Plötzlicher Tod
Die fröhliche Ferienstimmung wird jäh unterbrochen, als Marie eines Morgens mit dem Wäschekorb auftaucht, noch etwas schlaftrunken die Treppe zur Terrasse hinaufgeht. Sie übersieht ein Spielzeug, tritt drauf, verliert das Gleichgewicht:
„Marie fällt, ihr Kopf trifft auf das metallene Rohr des steinernen Schirmfußes. Marie in ihrem schnell übergeworfenen, leicht zerknitterten Sommerkleid. Marie ist auf der Stelle tot.”
Der Schock trifft alle, sie sind fassungslos, wie gelähmt, können es nicht glauben, bis alle aufspringen, um irgendetwas zu tun. Jeder reagiert auf seine Weise - verstreutes Spielzeug zusammentragen, zum Telefon laufen, Kinder beruhigen. Endlich kommt der Arzt, er stellt nur noch den Tod fest. Eine bizarre Situation, niemand schreit, niemand weint, sie tragen Marie ins Haus, bahren sie auf.
Irgendwie funktionieren
Jede Handlung bekommt jetzt Bedeutung, auch die banalste – Aufräumen, Telefonieren, Wäsche zusammenlegen, das Abendessen planen; Franz muss Verwandte benachrichtigen, mit dem Bestattungsunternehmen die Formalitäten klären, den Transport nach Hause planen.
„Auf der Terrasse schließt Dorothea die Dose mit Kakaopulver, stellt die flüssig gewordene Butter in den Schatten einer Topfpflanze, sie stellt die Teller zusammen, die Tassen ineinander und sieht sich zu, sieht zu, wie sich die Minuten ausbreiten,
.. wie kann sie ihre Hände beschäftigen, möglichst lange beschäftigen, wie kann sie in einem Rhythmus bleiben, der sie weiterträgt, einfach nur weiterträgt."
Eindringlich und poetisch
Das Haus wird zur Kulisse, vor der ihre Bewohner, die hier zufällig zu einer Gemeinschaft zusammengewürfelt sind, hilflos agieren und Fragen stellen, auch wenn es müßig ist: Wer hat die Lokomotive liegen gelassen, über die Marie gestolpert ist, wer hat vergessen, den schützenden Topf über das Metallrohr zu stülpen. Der halbleere Musiksalon wird Totenzimmer und Andachtsraum, man zündet Kerzen an, legt tröstend die Hand auf Franz' Arm, betrachtet die leblose Marie, berührt sie. Drinnen ist Stille, draußen geht das Leben weiter, wie in Zeitlupe, leiser, nachdenklicher. Und jeder für sich lässt auf einmal Gedanken zu, die bislang tabu waren: Beziehungsstress, Distanz, Entfremdung, Sinnsuche, Angst vor Trennung, Tod, Sterben.
Eindringliche Studie
Was passiert, wenn jemand völlig unerwartet stirbt - ein durchaus ungewöhnliches Thema. Ilia Vasella beobachtet behutsam, sprachlich überaus genau und sorgfältig, beschreibt minutiös Haus, Umgebung, Szenen und Gespräche. Sie fügt diese Bruchstücke zu einem Mosaik, durch das sie als roten Faden die Trauer um Marie zieht, letzte Begegnungen und Erinnerungen. Mit ihrem Debütroman gelingt ihr eine subtile, eindringliche und poetische Studie über den Ausnahmefall, der alle aus dem Tritt bringt. Von einer Sekunde zur anderen.
(Christiane Schwalbe)
Ilia Vasella, *1961, Schweizer Grafikdesignerin, lebt in Zürich und Frankreich
Ilia Vasella „Windstill"
Roman, Dörlemann, 160 Seiten, 20 Euro
eBook 14,99 Euro