Judith Hermann
Daheim
Bremer Literaturpreis 2022
Sie kann das Wort „Mahlzeit" nicht ausstehen – aber es gibt feste Regeln in der Zigarettenfabrik, in der sie täglich acht Stunden ihrer stupiden Arbeit nachgeht. Und mittags sagt man eben "Mahlzeit" unter Kollegen.
Geteiltes Herz
Das macht ihr der Schichtleiter unmißverständlich klar, sonst fliegt sie raus. „Es ging nicht um das Wort, es ging um die Regeln und um die Macht." Dieser Macht beugt sie sich. Sie will sich nicht anlegen, sie will überhaupt nicht viel vom Leben, das sich ziemlich eintönig anfühlt. Bis sie eines Tages auf der Tankstelle von einem älteren Mann mit Schlangenlederschuhen angesprochen wird, der sie gern als seine Assistentin engagieren möchte: „Er sagte, für meine Kiste. Die zersägte Jungfrau ... Ich bin Zauberer. Eine Woche lang denkt sie nach, dann besucht sie ihn und seine Frau und probiert es aus:
... es war unbequem in der Kiste, nicht anstrengend ... Und einen Moment später dachte ich, ich wäre tatsächlich in zwei Hälften geteilt – nicht körperlich, eher im Kopf. Vielleicht im Herzen. Mein Herz wäre in zwei Hälften geteilt. Ich war da, und ich war ganz woanders."
Das Angebot ist verlockend – eine Kreuzfahrt nach Singapur. Sie packt ihre Koffer – und begegnet uns fast dreißig Jahre später wieder, da ist sie 47. Das Gefühl, in der Kiste etwas zurückgelassen zu haben, ist geblieben.
Traumatisierte Kindheit
Sie ist damals nicht mitgefahren, hat in der Zwischenzeit Otis getroffen, ihn geheiratet, eine Tochter bekommen. Als die erwachsen ist und auf Reisen geht, trennen sich die Eltern, bleiben aber in gutem Kontakt. Die Ich-Erzählerin zieht an die Küste in ein abgeschiedenes norddeutsches Dorf, lebt dort im eigenen kleinen Haus, arbeitet bei ihrem älteren Bruder, der eine Strandkneipe betreibt. Aber der interessiert sich mehr für seine neue Freundin, eine klapperdürre, etwas verpeilte 21jährige mit einer traumatischen Kindheit. Er ist sechzig. Ihre Beziehung endet mit einer Katastrophe.
„Nike ist als Kind in einer Kiste eingesperrt gewesen. Ihre eigene Mutter hat sie in eine Kiste gesperrt, manchmal nur eine Stunde, manchmal ein paar Tage lang. ... Je nachdem, wie Nike sich benahm, ob sie machte, was man ihr sagte oder ob sie sich zur Wehr setzte, nicht machte, was man ihr sagte."
Da ist sie wieder, diese Kiste, in der man halbiert wird oder traumatisiert, die man selbst nicht öffnen kann, die sich aus der Erinnerung nicht löschen läßt. Sie taucht später noch ein drittes Mal auf, wird ein Symbol in diesem Roman, in dem es um Erinnerung und Veränderung geht, um Alleinsein und Einsamkeit, um Neubeginn. Auch die Ich-Erzählerin und ihr Bruder waren oft allein, die Mutter ließ sie manchmal stundenlang auf der Treppe warten, ausgesperrt statt eingesperrt.
Zurück zu den Wurzeln
Im Haus der Ich-Erzählerin steht eines Nachts die Tür plötzlich sperrangelweit auf – sie bekommt Angst. Obendrein hat sich auf dem Dach offenbar ein Tier eingenistet. Zum Glück zieht im etwas entfernten Nachbarhaus Mimi ein – nach drei gescheiterten Ehen kommt sie zurück zu ihren Wurzeln. Sie ist hier oben aufgewachsen, eine Malerin und Bildhauerin, neugierig und furchtlos. Vorsichtig entsteht eine neue Freundschaft:
„Seit heute Abend bin ich nicht mehr so alleine, wie ich es den ganzen Winter über war ... Sie heißt Mimi, und ich vermute, du würdest sagen, sie sei eine ehrliche Haut."
Mimis Bruder ist der Schweinebauer im Dorf, Arild. Er weiß, wie man das Tier auf dem Dachboden, vermutlich ein Marder, mit einer Falle einfangen kann – wieder eine Kiste.
Seelische Zustände
Ein melancholischer Roman, geheimnisvoll und versponnen, in dem sich die Menschen abschotten, wortkarg und sparsam mit Emotionen sind, zerrissen zwischen Wunsch und Wirklichkeit. In dieser Atmosphäre trifft die einstige Städterin auf Menschen, die ausbrechen aus alten Mustern, Neues wagen wollen. Hermann lotet seelische Zustände aus, beschreibt sie kühl und präzise und folgt ihren Figuren vom Abschied bis zum Neubeginn. Vielleicht findet ihre Protagonistin in der vorsichtigen Liebesgeschichte mit Arild wieder, was sie vermeintlich verloren hat – die andere Hälfte ihres Herzens.
„Ich habe vor dieser Falle gestanden, und die Kiste ist zu mir zurückgekehrt wie ein Bild aus einem Traum .. Plötzlich, ganz leicht. Ein Gegenstand, der unter Wasser liegt, von etwas hochgedrückt wird und an die Wasseroberfläche kommt. Schwimmt. Ein Korken. Oder ein Tau.”
(Christiane Schwalbe)
Judith Hermann, *1970 in Berlin, wo sie auch lebt, vielfach ausgezeichnete Schriftstellerin (u.a. Kleist-Preis). "Daheim" wurde nominiert für den Preis der Leipziger Buchmesse 2021 und erhielt den Bremer Literaturpreis 2022.
Judith Hermann „Daheim"
Roman, S. Fischer 2021, 192 Seiten, 21 Euro
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"Lettipark"
"Aller Liebe Anfang"