Judith Hermann
Aller Liebe Anfang
Erst ist sie der "Star der deutschen Literatur", dann hat sie nichts zu sagen. Die Debatte um die Qualität von Judith Hermanns erstem Romans – nach drei Erzählungsbänden – ist anhaltend heftig und verletzend.
Ein überschaubares Leben
Aber wer ihr zuhört - wie bei der Premiere ihres Buches auf dem Internationalen Literaturfestival in Berlin oder, ganz einfach, auf dem von ihr gelesenen Hörbuch – der wird von ihrer eindringlichen, fast monotonen Stimme unweigerlich hineingezogen in die Magie dieses Romans. Es ist die Geschichte von Stella, die mit Ihrem Mann und ihrer kleinen Tochter ein überschaubares Leben führt:
"Das Haus liegt in einer Siedlung am Stadtrand. Es ist ein einfaches Haus mit zwei Stockwerken und einem moosigen Ziegeldach, einem Panoramafenster neben der Haustür und einem Wintergarten nach hinten raus. Das Grundstück ist nicht groß. Zur Straße hin schließt es eine Jasminhecke ab."
Unerwartete Veränderungen
Jason und Stella haben sich im Flugzeug kennengelernt, sich verliebt, geheiratet und ein Kind bekommen. Ihr Mann ist Bauarbeiter und viel unterwegs, Stella arbeitet als Krankenpflegerin, betreut ihre Patienten freundlich und routiniert. Große Ereignisse gibt es nicht in diesem durchschnittlichen Leben, eher Langeweile und Gleichförmigkeit. Bis sich eine unerwartete Veränderung ankündigt, die unmerklich und schleichend beginnt, zunächst kaum wahrnehmbar ist und sich zum Drama steigert. Es klingelt an der Tür:
Eine Erscheinung
"Auf der Straße vor dem Tor steht ein Mann, den sie nie zuvor gesehen hat. Ein junger Mann, vielleicht dreißig, zweiunddreißig Jahre alt. Nicht der Postbote, kein Zeitungsausträger, kein Lieferant und auch nicht der Schornsteinfeger … ein Mann in einer hellen Hose, dunklen Jacke, durch nichts zu identifizieren. Eine Erscheinung." Judith nimmt den Hörer der Gegensprechanlage und der Mann sagt: "Ich würde mich gern mal mit ihnen unterhalten". Judith lehnt ab, "keine Zeit, sagt sie, gar keine."
Tragisches Ende
Der Mann kommt wieder, klingelt, wartet, beobachtet, beginnt ihren Briefkasten mit Zetteln, Briefen und Gegenständen zu füllen. Stella fällt es immer schwerer, ihn zu ignorieren, sie weiht Jason ein, der eher hilflos reagiert. Unruhe schleicht sich in ihr Leben, Angst, auch Wut und Hilflosigkeit, bis sie endlich den Mut findet, den Stalker bei der Polizei anzuzeigen. Aber das tragische Ende ist nicht mehr aufzuhalten.
Minutiöse Schilderung
Das alles wird aus der Perspektive Stellas erzählt, knapp und reduziert, sparsam, Handlungen Schritt für Schritt beschreibend, den Alltag minutiös schildernd, fotografisch genau, lakonisch, ohne ein überflüssiges Wort. Judith Hermann lotet fast unmerklich die Psyche dieser Frau aus, deckt Defizite auf, verdrängte Gefühle und Sehnsüchte. Stellas Alltag geht weiter – scheinbar reibungslos zunächst. Aber je mehr sich dieser Fremde in ihr Leben drängt, desto dünnhäutiger wird sie, desto mehr gerät ihr durch und durch geregeltes Leben aus den Fugen.
Ein spannender, psychologischer Roman, der polarisiert und fasziniert, weil er - von einer Minute zur anderen - die sichere und geordnete Existenz von Menschen in Frage stellt und Abgründe aufdeckt, die Albträumen vorbehalten sind.
(Christiane Schwalbe)
Judith Hermann *1970 in Berlin, deutsche Schriftstellerin, Kleist-Preis, lebt in Berlin
Judith Hermann "Aller Liebe Anfang"
S. Fischer Verlag 2014, 224 Seiten, 19,90 Euro
eBook 17,99 Euro, Audio-CD 19,99 Euro, Hörbuch-Download 12,99 Euro
Weitere Buchtipps zu Judith Hermann
"Daheim"
"Lettipark"