Thomas Hettche
Pfaueninsel
Wenn man Glück hat, dann schenken die Pfauen dem Besucher der Insel ein farbenprächtiges Schauspiel und schlagen ein leuchtend grün-blau-gold schillerndes Rad. Aber eigentlich tun sie es nur zur Balzzeit, um den Weibchen zu imponieren, oder um Angreifer zu vertreiben.
Wie ein Fisch
Die prachtvollen Vögel leben schon lange auf der Pfaueninsel, die man mit einer Fähre über die Havel erreicht, und "die auf Karten einem Fisch gleicht, einem flossenschlagenden, sich wild aufbäumenden Wal". Aber kann man sich vorstellen, dass hier auch Kängurus, Affen und sogar ein Löwe gelebt haben? Lange blieben die empfindlichen Tiere nicht am Leben, doch der preußische Landschaftsarchitekt Peter Joseph Lenné schaffte im Auftrag des preußischen Königs immer wieder neue hierher.
Exotischer Landschaftspark
Er gestaltete die Insel, auf der vorher eine Kaninchenzucht und dann Landwirtschaft betrieben wurde, nach englischem Vorbild zu einem exotischen Landschaftspark um, pflanzte fremdartige Gewächse und einen üppigen Rosengarten, baute Tiergehege und ein großes Palmenhaus. Die Natur wurde gezähmt.
Rubinrotes Glas
Auch der Alchimist Johannes Kunckel lebte einst hier und schuf schimmernde Kunstwerke – eines davon, ein altes Weinglas ohne Stil, rubinrot, hat es dem Schlossfräulein Marie besonders angetan, sie
"tippte mit dem Zeigefinger ganz sanft gegen das Glas und es begann sich mit klingelndem Scharren um eine imaginäre Achse zu drehen. Das rote Leuchten, dunkel und warm darin gefangen, warf zitternde Splitter um sich her auf das weißgestrichene Fensterbrett …"
Monster und Mohr
Dieses Glas wird Marie bis zum Schluss begleiten, durch ein unglückliches Schicksal, in dem sie sich als "Ding" fühlt und als "Monster", wie Königin Luise ihren Bruder Christian nennt und Marie genauso trifft; sie ist eine Zwergin und wie Christian stets neugierigen, wenn auch nicht verachtenden Blicken ausgesetzt. Ein ungewöhnlich großer Mann, ein "Riese", und ein "Mohr" aus der Südsee leben als Teil des bunten Panoptikums ebenfalls auf der Insel. Othaheiti – Tahiti – war damals groß in Mode, im Schloss gibt es ein "othaheitisches Cabinett".
Blick in die Vergangenheit
Später, als sie schon sehr alt ist, wird Marie diesen Raum Touristen zeigen und ihre Neugier mit Geschichten aus der lebhaften Vergangenheit der Insel wecken. Sie allein ist übrig geblieben auf dieser Insel in der Havel: "Als ob die Zeit selbst hier ihre Richtung verlöre, umstrudelt sie die Insel, es vermischen Vergangenheit und Zukunft sich hier auf besondere Weise."
Kunstvoll erzählt
Maries Liebe zum normal gewachsenen Neffen des Hofgärtners, von dem sie ein Kind bekommt, steht im Mittelpunkt von Hettches großartigem Roman, einer Mischung aus Märchen, Wissenschaft und sorgsam recherchierter Historie der Insel im 19. Jahrhundert. Kunstvoll verknüpft er in den Lebensgeschichten seiner Personen die Dinge des Lebens: Sexualität, Liebe und Tod, Abschied, Unterwerfung der Natur und menschlichen Größenwahn, Erfolg und Niederlage, Ästhetik und Kunst, Stillstand und Fortschritt. Ein kluges und meisterhaft erzähltes Buch.
(Christiane Schwalbe)
Thomas Hettche *1964 nahe Gießen, deutscher Autor mit zahlreichen Auszeichnungen, lebt in Berlin und der Schweiz
Thomas Hettche "Pfaueninsel"
Roman, Kiepenheuer & Witsch 2014, 352 Seiten, 19,99 Euro
eBook 17,99 Euro, AudioCD 24,95 Euro, Hörbuch-Download 18,57 Euro
Weiterer Buchtipp zu Thomas Hettche
"Herzfaden" - Roman der Augsburger Puppenkiste