Thomas Hettche
Herzfaden
Roman der Augsburger Puppenkiste
"Die Menschen brauchen Märchen" sagt Michael Ende auf den letzten Seiten. Und auf die Frage, was Märchen eigentlich sind: "Man wünscht sich etwas, und es geht in Erfüllung ... Oder man wird verwünscht und muss wieder gelöst werden. ... Das Märchen sagt: Nichts ist folgenlos und nichts Schicksal."
Teppich aus Mondlicht
Also hat Thomas Hettche ein Märchen geschrieben – abwechselnd in roter und blauer Schrift, als Hommage an Michael Ende und seine "Unendliche Geschichte", die zweifarbig gedruckt wurde. Eigentlich sind es sogar zwei Märchen: Das eine – in roten Buchstaben – beginnt, als sich ein zwölfjähriges Mädchen, eine moderne Alice im Wunderland mit iPhone in der Hand, nach der Theatervorstellung von der Hand des Vaters losreisst - "Puppentheater ist Kinderkram". Durch eine kleine Holztür gelangt es in die Welt der Marionetten, die sich um das geschrumpfte Mädchen scharen und lebendig werden. Auf einem Teppich aus Mondlicht trifft es Hatü.
Vom Haustheater zur Puppenkiste
Die zweite märchenhafte Geschichte ist zugleich die reale – in blauen Buchstaben: Hatü heißt eigentlich Hannelore und ist die Tochter von Walter Oehmichen, Schauspieler und Oberspielleiter, der noch während des Krieges die Augsburger Puppenkiste gründete – zunächst den Puppenschrein als mobiles Haustheater – und sie wieder aufbaute, als Bühne und Marionetten 1944 bei einem Bombenangriff verbrannten. Auch Oehmichen war im Krieg, die Idee eines Puppentheaters kam ihm in Calais, wo er mit seiner Truppe in einer Schule einquartiert war, in der er ein Puppentheater entdeckte:
"Es war ganz anders als im richtigen Theater. Ich hatte die Puppen aus allem zusanmmengebaut, was sich eben finden ließ, klapprige Dinger waren das, ganz unansehnlich, mit ein paar Stofffetzen behangen. Und doch waren sie lebendig. Und meine Kameraden, alles harte Kerle, die grauenvolle Dinge erlebt hatten, wurden plötzlich wieder zu Kindern."
Mitten im Krieg
Panzer in der Wochenschau, die gen Osten rollen, Hakenkreuzfahnen überall und Durchhalteparolen, heimliches BBC-Radio, Judendeportationen, Bombenalarm, Verdunkelungen, Explosionen und Feuerregen, Zerstörung und Tod - die Familie Oehmichen erlebt das Elend des 2. Weltkriegs und die Nachkriegsjahre wie alle anderen auch. Aber über Not und Angst und Hunger schwebt bei Hettche stets die tröstende Illusion einer heilen Welt auf der Marionettenbühne, die Magie der Puppen, die an Fäden tanzen und die magische Kraft besitzen, selbst im Krieg über den Herzfaden Menschen in Fantasiewelten zu entführen – das Grauen wird bei Hettche dadurch weniger bedrohlich:
"Der wichtigste Faden einer Marionette. Nicht sie wird mit ihm geführt, sondern mit ihm führt sie uns. Der Herzfaden einer Marionette macht uns glauben, sie sei lebendig, denn er ist am Herzen der Zuschauer festgemacht."
Oehmichen, noch nicht entnazifiziert und damit ohne Job, hat eine Vision, die ihn nicht mehr los lässt. Und er weckt damit in seiner Tochter Hatü erst Begeisterung und schließlich eine tiefe Leidenschaft für die Marionetten. Schon als junges Mädchen hat sie Puppen geschnitzt und über Jahrzehnte alle Marionetten der Augsburger Puppenkiste, das Theater übernommen und hinein geführt in die modernen Zeiten, als die Puppenkiste Fernsehgeschichte schrieb. Es gibt sie nun seit 72 Jahren, erlebte 1948 ihre wahre Geburtsstunde, als Oehmichen mit seinem Familienunternehmen wieder Kultur ins Leben der Menschen bringen wollte:
"Wir müssen die Herzen der Jugend erreichen, die von den Nazis verdorben wurden. Und die Fäden, mit denen wir sie wieder an Kultur anknüpfen, das sind die Fäden meiner Marionetten."
Eine Erfolgsgeschichte
Hettche hat sorgfältig recherchiert, und so begegnen wir all den Märchenfiguren, die seitdem als Marionetten ihren großen Auftritt hatten, von Kasperl und Gretel bis hin zum kleinen Prinzen, Urmel aus dem Eis, dem kleinen König Kalle Wisch und Jim Knopf, dem Lokomotivführer. Vor allem Hatüs Lebensgeschichte gilt sein Interesse, sie wird doppelt lebendig, in rot und in blau - als rauchende Erwachsene im cremefarbenen Kostüm genauso wie als verängstigtes Kind im Krieg, als verliebtes junges Mädchen und als leidenschaftliche Puppenschnitzerin und Theaterleiterin. Die Konstruktion - rot=Märchen, blau=Realität - verliert da manchmal die Konturen, wiederholt das Geschehen. Hettche erliegt der Faszination der Marionetten, wird selbst zum Märchenerzähler, poetisch in der Sprache, träumerisch im Tonfall, liebevoll in der Beschreibung seiner Figuren. Aber es will nicht recht ein Roman für Erwachsene werden, weil dieser märchenhafte Ton sogar die Schrecken des Krieges überlagert. Vielleicht muss man Hettches Generation angehören, um den Herzfaden zu spüren, vielleicht nur Kind geblieben sein im Herzen, um den Zauber zu fühlen:
"Ein bisschen ist es wie der Kleine Prinz, man weiß nicht recht, ob es ein Buch für Kinder oder Erwachsene ist. Und beim Lesen kam es mir plötzlich so vor, als ob es Geschichten für Kinder oder Erwachsene gar nicht gäbe.“
(Christiane Schwalbe)
Thomas Hettche, *1964 nahe Gießen, deutscher Autor mit zahlreichen Auszeichnungen, lebt in Berlin und der Schweiz
Thomas Hettche "Herzfaden"
Roman der Augsburger Puppenkiste
Mit 27 Zeichnungen von Matthias Beckmann
Kiepenheuer und Witsch 2020, 288 Seiten, 24 Euro
eBook 19,99 Euro, AudioCD 19,19 Euro
Weiterer Buchtipp zu Thomas Hettche
"Pfaueninsel"