Judith Hermann
Lettipark
Es sind die Geschichten hinter den Geschichten, die diese Erzählungen so besonders machen. Der Tonfall ist knapp, lakonisch. Die Protagonisten erinnern sich ruhig und gefasst; Emotionen, natürlich, die gibt es, aber sie liegen im Verborgenen, manchmal ist es nur ein einziger Satz.
Tränen
" … nur ein einziger Satz, mit rotem Stift und quer über das Papier geschrieben, dieser Satz in großen und wie empörten Buchstaben – ich habe Angst."
Die dies schreibt, ist gerade zwanzig und mit Margo befreundet, die früh stirbt. Übrig bleibt ihre Mutter, die noch viele Jahre um ihr Kind weinen wird.
"Meine Mutter und Margo führten zusammen ein gelbes Heft, in dem sie die Facetten ihrer Persönlichkeiten notierten, der Persönlichkeiten, die sie waren, und der Persönlichkeiten, die sie sein würden oder sein könnten."
Episoden
Kurze Rückblenden, ausgelöst durch ein Tagebuch, ein loderndes Feuer, eine Berührung oder ein altes Foto: Martha und Iris sitzen vor dem Haus eines Freundes auf den Antillen – zwei schwarze Hausangestellte, ein weißer Junge, ein Freund, der mit Drogen dealt. Und dann kommt die Polizei und aus der Idylle wird die Hölle, an die man sich Jahre später kaum noch erinnert. Eine tragische Episode im Leben, fast vergessen.
Wahrheit
An Krisen im Leben erinnert man sich besser: Tess hat zwei Söhne, ist alleinerziehend und will wieder arbeiten, das Vorstellungsgespräch macht Nick möglich, der Freund, der auf die kranken Kinder aufpasst und Papierflieger mit ihnen bastelt, während Tess sich bewirbt:
"Ich hab denen die Wahrheit gesagt, was sonst? Ich hab gesagt, dass ich zwei Kinder habe und dass ich alleinerziehend bin und dass ich Erfahrung mit psychiatrischen Stationen habe. So habe ich es ausgedrückt. Dass ich lange zuhause war und jetzt wieder raus möchte."
Ein halbes Leben steckt in diesen Sätzen, die Hoffnung auf einen Neuanfang. Und dann stehen sie zu viert vor dem Fenster und lassen Papierflieger in die Nacht schweben – kleine Momente des Glücks in einer Welt, deren Abgründe wir erahnen können.
Kindheit
Die haben auch Rosa und Elena durchlebt, die sich zufällig im Supermarkt treffen. Elena, die einstige Schönheit mit den Mandelaugen "ist schwer und alt geworden, phlegmatisch und langsam … sieht aus wie eine traurige Riesin. Eine schwermütige, verzauberte Riesin."
Rose erinnert sich stellvertretend an bessere Zeiten und ein Buch mit eigenen Fotos, das Elena von einem Verehrer geschenkt bekam – "Lettipark" nannte er es. Dort hat sie ihre Kindheit verbracht. Und Rose wartet – auf eine Geste, einen Blick. Vergeblich.
Schicksal
Es sind wehmütige, melancholische Geschichten über scheinbar zufällige, aber entscheidende Begegnungen im Leben der Menschen, denen Judith Herrmann ein Gesicht gibt. Sie sind nicht leicht durchs Leben gekommen, versuchen – so scheint es - im Rückblick zu verstehen: sich selbst, das Schicksal, Leid, Freundschaft und Liebe, den Tod. Nicht ohne Hoffnung, aber in einem Augenblick des Verharrens, Abwartens - wie Patricia:
"Sie ist für einen Moment in einem Schwebezustand, etwas Leichtes, Klingendes, wie kurz vor einer Erkenntnis Stehendes."
(Christiane Schwalbe)
Judith Hermann *1970 in Berlin, wo sie auch lebt, vielfach ausgezeichnete (u.a. Kleist-Preis) Schriftstellerin
Judith Hermann "Lettipark"
Erzählungen, S. Fischer 2016, 192 Seiten, 18,99 Euro
e-Book 16,99 Euro
Weitere Buchtipps zu Judith Hermann
"Daheim"
"Aller Liebe Anfang"