Juli Zeh
Unterleuten
Es stinkt buchstäblich zum Himmel in Unterleuten, schwarze Rauchwolken qualmen, der Nachbar verbrennt Autoreifen, um den aus Berlin mit Frau und Baby zugezogenen Naturschützer zu vertreiben, der ausgerechnet hier den vom Aussterben bedrohten Kampfläufer retten will und sich überall einmischt.
Alte Fehden
Ein fiktives Dorf in Brandenburg: Hinter scheinbarer Idylle lauern Bösartigkeit, Hinterlist und Intrige. Wo früher klare sozialistische Regeln im Arbeiter- und Bauernstaat DDR für Übersicht und Zuordnung sorgten, hat nach der Wende der Kapitalismus Einzug gehalten und das bisherige soziale Gefüge aus dem Gleichgewicht gebracht. Aber es sind nicht nur die Einflüsse des bösen Westens, die die dörfliche Ruhe stören, es sind auch uralte Fehden der Dorfbewohner, die unter den neuen Vorzeichen von Macht und Profit erneut aufflammen.
Zeichen der Zeit
Als der Großbauer die Zeichen der Zeit erkennt und die alte LPG auf biologische Landwirtschaft umstellt, ruft er seinen alten Feind, einen Altkommunisten, auf den Plan, der eherne Grundsätze in Gefahr sieht und zu ihrer Verteidigung ausholt. Wenn dann noch Fremde ins Dorf drängen, diese "Spinner aus dem Westen", die von der Großstadt die Nase voll haben und sich auf dem Land selbst verwirklichen wollen, dann stehen alle Zeichen auf Sturm:
"Die einen spielten Superkapitalisten, ersteigerten Hunderte Hektar zu Phantasiepreisen, weil sie gerade Lust dazu verspürten und hoben dadurch die Bodenrichtwerte weiter an. Die anderen gehörten zur Kategorie Weltenretter, zogen nach Unterleuten, um im Auftrag des Naturschutzes ein paar dämliche Vögel gegen die örtliche Landwirtschaft zu verteidigen, und verwandelten jedes neue Silo und jede geplante Flächenumnutzung in eine Staatsaffäre mit Genehmigungspflichten, reihenweise Aktenordnern und nervtötenden Behördenverfahren."
Kampf um Macht
Juli Zeh, die selbst seit zehn Jahren in einem Dorf in Brandenburg lebt, erklärt uns das Geschehen aus den wechselnden Perspektiven der nicht unbedingt sympathischen Bewohner, die sich beim Kampf um Macht und Geld und Privilegien ständig in die Quere kommen. Moral stört da nur. Die Autorin gräbt tief in der Geschichte des Dorfes, beleuchtet alte und neue Schicksale, Beziehungen, Egotrips und Kampfarenen. Die Geliebte des Großbauern, die mit einem Rudel von Katzen lebt, ist ebenso ungelitten wie jener Automechaniker, der seine neuen Nachbarn einfach ausräuchern will, genau wie die durchgeknallte Pferdenärrin, die auf dem Land eine Zucht aufbauen und Manager pferdeflüsternd coachen will. Die Ereignisse bündeln sich zum explosiven Gemisch, als der geplante Bau einer Windparkanlage bekannt wird, die für eine ganze Reihe von Leuten zur Gewinnmaximierung beitragen könnte.
Vielstimmiges Panorama
Was Juli Zeh da an Prototypen auftreten lässt, wie kunstvoll und provokativ sie die einzelnen Lebensgeschichten verknüpft und dabei Charaktere auslotet, die mieser, korrupter oder bornierter nicht sein könnten, das ist großartig. Unterleuten ist Spiegel einer aus den Fugen geratenen Gesellschaft, die zur Hälfte in der Vergangenheit lebt und herrisch ein Terrain verteidigt. Die andere Hälfte setzt auf skrupellose Durchsetzung eigener Interessen. Hier hat jeder mindestens eine Leiche im Keller - und weil jeweils mindestens ein Nachbar davon weiß, sind alle erpressbar. Ein Panoptikum gesellschaftlicher Spielfiguren, kurios und pointiert, manchmal etwas überzeichnet und ins Klischee abrutschend. Aber wer weiß: Vielleicht ist "Dorf" genauso. Jedenfalls tut es dem Lesevergnügen keinen Abbruch, denn Juli Zeh schreibt einfach gut - routiniert und unterhaltsam, spannend und voller Tempo.
(Christiane Schwalbe)
Juli Zeh *1974 in Bonn, dt. Schriftstellerin und Juristin, lebt im Kreis Havelland/Brandenburg
Juli Zeh "Unterleuten"
Roman. Luchterhand 2016, 640 Seiten, 24,99 Euro
eBook 19,99 Euro
Weitere Buchtipps zu Juli Zeh
"Zwischen Welten"
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"Neujahr"
"Leere Herzen"
"Corpus Delicti" - Ein Prozess