Hans Platzgumer
Am Rand
Ein Mann verlässt noch vor Tagesanbruch seine Wohnung, besteigt einen Berg, setzt sich auf einen Felsen am Rand des Abgrunds, zieht Stift und Block hervor und beginnt zu schreiben. Einen ganzen Tag lang. So hat er das geplant: Hier oben will er zurückblicken auf sein Leben, hier oben endlich einen Text zu Ende bringen.
Hurensohn
Er hat sich schon mehrfach versucht in Romanen, ohne Erfolg. Er hat vieles schon ohne Erfolg versucht, dieser Junge aus Südtirol, den seine Mutter allein aufgezogen hat, einen Vater gibt es nicht. Die emotionale Bindung zwischen den beiden ist nicht sehr ausgeprägt. Und wenn man ihn Hurensohn schimpft, dann ist das die Wahrheit. Er ist der Sohn einer ehemaligen Hure, die inzwischen alte Leute pflegt:
"Eben noch eine schwangere Nutte, dann eine Nonne, die die Männer pflegt, die sie eigentlich hätte hassen sollen. … dieser fromme, keusche, dienende Alltag, bei meiner Geburt hat sie damit begonnen."
Schattenloch
Die beiden leben in Bregenz in der Südtirolersiedlung, nicht gerade ein heimeliger Ort: "Keinesfalls nur ausgewanderte Südtiroler wohnten hier. Türken und Jugoslawen hatten sich daruntergemischt, aber alle blieben für sich, mieden einander, mochten sich nicht." Zwei Jugendbanden liefern sich heftige Kämpfe, es gibt eine Karateschule mit einem gnadenlos strengen Lehrmeister. Im Karate gilt nur ein 'erstens' – Hitotsu – kein 'zweitens' oder 'drittens'. Alles ist gleichbedeutend. Deshalb ist jedes neue Kapitel dieser Lebensgeschichte mit Hitotsu überschrieben.
Stiller Tod
Gerolds Leben ist armselig, die Siedlung hässlich: "Tagsüber krochen wir aus den Häuserblocks, die von den Nazis Anfang der vierziger Jahre überall in Westösterreich errichtet worden waren"- für Südtiroler, die nicht italienisch sprachen und auswandern sollten. Die Menschen nehmen wenig Anteil aneinander, nur so konnte der Tod eines alten Mannes ein Jahr lang unbemerkt bleiben. Es ist der erste, für ihn faszinierende Tod, mit dem Gerold konfrontiert ist. Ein stilles Sterben. Das nächste ist heftiger, denn er erstickt seinen schwer kranken Großvater, der seine Mutter tyrannisiert. Und es geschehen weitere Tode in seinem Leben – der beste Freund bittet ihn nach einem furchtbaren Unfall um Erlösung. Gerold leistet Sterbehilfe. Auch sie ist alles andere als ein stiller Akt:
"Ich will nicht, dass das Töten zur Gewohnheit wird, aber ich merke, wie lange ich den Gedanken bereits in mir trage, Guidos leiden ein Ende zu setzen. Endlich ist es entschieden, denke ich, endlich gibt er sich dem Tod, mir, hin."
Nur ein Schritt
Immerhin: Ein Glück gibt es, die Beziehung zu einer Frau hält 20 Jahre lang. Aber sie endet abrupt und tragisch. Auch darüber lässt Platzgumer seinen Ich-Erzähler schreiben - kühl, lakonisch, nahezu ungerührt.
Schnörkellos und präzise ist die Analyse dieser weitgehend glücklosen Existenz – eine Studie vom Innenleben eines Mannes, der es nicht geschafft hat. Ein kompakter und in seiner Klarheit beklemmender Roman, mit präzisen Bildern, intensiv, konzentriert und fesselnd bis zum Schluss - bis zu diesem einen Schritt, der noch zu tun bleibt.
(Christiane Schwalbe)
Hans Platzgumer *1969 in Innsbruck, österreichischer Musikwissenschaftler, Komponist und Schriftsteller, lebt in Bregenz
Hans Platzgumer "Am Rand"
Roman, Zsolnay 2016, 208 Seiten, 19,90 Euro
eBook 15,99 Euro
Weiterer Buchtipp zu Hans Platzgumer
"Bogners Abgang"