Norbert Gstrein
In der freien Welt
"In meinen Augen hörte er nicht auf, der größte zu sein, weil ich es nicht anders wollte", um diese Einsicht kreist der wenig erfolgreiche österreichische Autor Hugo in seinem Versuch, seinen in San Francisco ermordeten Freund John zu begreifen.
Spuren der Erinnerung
Er macht sich auf die Suche nach allen Erinnerungsspuren, derer er habhaft werden kann, in Österreich, den USA, Israel. John, amerikanischer Jude, Sohn einer KZ-Überlebenden und ehemals Freiwilliger in der israelischen Armee ist sein Gegenbild und blieb ihm, da ebenfalls Schriftsteller, lebenslange Herausforderung, obwohl sie sich zeitweilig aus den Augen verlieren.
"…das Ungenügen, dass ich bei diesem Treffen John gegenüber empfand, hatte damit zu tun, dass ich aus meinem Stipendiatenzimmer kam, wohlversorgt mit allem und gepäppelt wie ein Clown, mit Tagen voller Muße und Abenden mit Diskussionen, die nicht schlimm waren, die mich gleichzeitig aber immer mit Sehnsucht nach der Nacht, dem Wald und dem Alleinsein erfüllten."
Doch Nacht, Wald und Alleinsein blieben für ihn im nebulösen Feld der romantischen Freundesliebe für immer mit John verknüpft.
Als Autor denunziert
Jetzt, nach dessen mysteriösem Tod, bleibt dem ausgebrannten österreichischen Freund nichts anderes mehr als die Anstrengung, mit seiner lebenslangen Zuneigung zu John, dem "Muskeljuden", auch sein eigenes Leben zu verstehen: ein Skandalbuch über einen österreichischen Politiker, das er unter Pseudonym schrieb, machte ihn zwar unabhängig, markierte aber auch den Endpunkt, als Autor ernst genommen zu werden. Als er seine Absicht, Johns Schicksal literarisch zu verarbeiten, einem Kritiker verrät, wird er denunziert als
"…ein leergeschriebener Schriftsteller, der sich an jedem Aas mästete, um sein stillstehendes Herz noch einmal um Schlagen zu bringen, ein Schmarotzer, der sich einer fremden Geschichte bemächtige und weder Anstand noch Scham kenne, wenn er irgendwo die geringste Chance sehe, sich in den Mittelpunkt zu stellen."
Sarkastische Einblicke
Kein abwegiger Gedanke - Norbert Gstreins Szenario einer literarischen Suche, die sowohl den anderen, den jüdischen Autor mit dem unbändigen Willen, sich der Realität auszusetzen, verfehlt als auch Hugo selbst, ist ambitioniert konstruiert und bietet immer mal wieder treffende und sarkastische Einblicke in die literarische Szene Österreichs oder die intellektuelle Kaste in den USA, die sich noch immer an den dichterischen Resten der Beatnik Generation berauscht:
"Ohne ihre Verrücktheit, ohne ihre Drogen und ohne ihr Kokettieren mit Wahnsinn, Tod und Gefahr waren sie nackt. Sie hatten versucht, den Unterschied zwischen Leben und Kunst zum Verschwinden zu bringen, und in ihren schönsten Augenblicken ein paar herzzerreißende Zeilen gewonnen, aber jetzt war beides verloren, in den meisten Fällen weit und breit keine Kunst mehr, und das Leben auch bald vorbei.
Plakativ und weitschweifig
Doch schon der Versuch, Johns Tod mit seinem Leben in Israel, seiner Zeit als Soldat, seinen Frauen oder seinem Versagen als Vater zusammenzubringen, bleibt plakativ, weitschweifig und hohl. Auch der Aufbau des jungen palästinensischen Autors Marwan als Gegenfigur, mit dem in Österreich ein gemeinsames Projekt vereinbart wird, steht nur dafür, wie wenig es Gstrein diesmal gelingt, seinen Protagonisten Leben einzuhauchen; und dass ausgerechnet der Nahostkonflikt dafür herhalten muss, geht im Roman schon gar nicht auf. Dass Marwan eine Erzählung über Johns Ermordung schreibt, die offenbar auf präzisen Kenntnissen der Umstände beruht, bleibt lediglich ein Moment, die ziellose Suche des Österreichers mit etwas künstlicher Spannung aufzuladen.
Neuer Anfang
Hugo wechselt je nach Laune die Orte, immer in der Hoffnung, mit den Orten auch die Zeit wechseln zu können:
"Denn genaugenommen ging es mir nur darum, noch einmal einen Anfang zu finden oder, richtiger, den Anfang, von dem ausgehend sich dann auch ein Ende zeigen würde."
Doch seine Suchbewegungen bleiben trotz akribisch recherchierter Ortskenntnisse meist so unkonzentriert und blass wie die ganze Figur des intendierten „Zeugen, Beobachters, Bewunderers“. Das Schema der Konfrontation mit dem toten, aber in der Erinnerung höchst lebendigen und widersprüchlichen jüdischen Freund, den die Frauen liebten, erschöpft sich allzu rasch und hinterlässt den Eindruck, dass die beabsichtigte Demontage des Erzählers auch dem Roman den Boden entzog.
(Lore Kleinert)
Norbert Gstrein *1961 in Mils/Tirol, österreichischer Schriftsteller, lebt in Hamburg
Norbert Gstrein "In der freien Welt"
Roman, Hanser 2016, 496 Seiten, 24,90 Euro
eBook 18,99 Euro