Roland Schimmelpfennig
An einem eiskalten Januarmorgen zu Beginn des 21. Jahrhunderts
In Berlin, müsste man noch ergänzen. Ein ungewöhnlich langer Titel, der einiges verspricht – Großstadt, Jahrhundertwende, eiskalter Winter. Da erwartet man vom meistgespielten Dramatiker Deutschlands eine spannende Geschichte – so verheißungsvoll wie der Anfang seines Roman-Debüts:
Im Morgenlicht
"An einem klaren, eiskalten Januarmorgen zu Beginn des 21. Jahrhunderts überquerte ein einzelnen Wolf kurz nach Sonnenaufgang den zugefrorenen Grenzfluss zwischen Deutschland und Polen. Der Wolf kam von Osten … Der Wolf lief im Morgenlicht unter dem wolkenlosen Himmel über weite schneebedeckte Felder, bis er den Rand eines Waldes erreichte und darin verschwand."
Bewährungsprobe
Bislang hat sich Roland Schimmelpfennig als Theaterautor und Dramaturg einen Namen gemacht, nun also der erste Roman (und gleich nominiert für den Preis der Leipziger Buchmesse 2016) über ein Tier, das in Berlin bislang noch nicht gesichtet wurde. Füchse, die an Hauswänden entlang spüren, die gibt es, Wildschweine, die Vorgärten verwüsten, das kennt man. Aber ein Wolf?
"Der Wolf jagte Hasen und Kaninchen, Rehe, aber der hohe Schnee machte ihn langsamer und die Jagd schwerer. Der Hunger trieb ihn in die Nähe von Menschen ..."
Der Wolf macht sich rar, greift niemanden an, taucht vor allem in den Phantasien der Menschen auf, kommt natürlich in die Zeitung, wird zur Bewährungsprobe einer jungen türkischen Journalistin:
"Sie war Mitte zwanzig, sie versuchte bei der Zeitung einen Fuß auf den Boden zu bekommen. Ihr Name war Semra. Sie würde über den Wolf schreiben, auch wenn sie keine Ahnung von Wölfen hatte, egal. Das war ihre Chance."
Tod im Wald
Roland Schimmelpfennig hat in kurzen Texten Episoden in Szene gesetzt, lose miteinander verknüpft, traurige Geschichten vom Elend in der großen Stadt: Über die Frau, die die Tagebücher ihrer verstorbenen Mutter verbrennt, über Charly, den Kioskbesitzer, der noch nie einen Wolf aus der Nähe gesehen hat und ihn erschießen will. Über zwei jugendliche Ausreißer, die während der Fahrt auf einer Zugplattform fast erfrieren. Über den alkoholabhängigen Vater, der seinen Sohn, den Ausreißer sucht, über den Jäger, der mit dem Gewehr loszieht und später tot im Wald gefunden wird.
Über den Polen Tomasz, mit dem alles anfängt, weil er ein Foto vom Wolf gemacht hat, am Rande der Autobahn, neben dem Stau, im Schnee. Tomasz arbeitet in Berlin am Bau, ist depressiv und mit Agnieszka befreundet. Die jobbt in Dahlem als Putzfrau, verkauft das Foto an die Zeitung ... und so weiter.
Sehnsucht nach Aufmerksamkeit
Das wilde Tier bleibt unsichtbar, plündert Müll, dient als Verknüpfung und Projektionsfläche für all' diese Geschichten, die auch in jeder anderen Großstadt spielen könnten – wären da nicht Prenzlauer Berg und die Gentrifizierung und ein uraltes Ehepaar, das sich weigert, auszuziehen. Einzelschicksale, Szenen von Menschen, die sich im Großstadtschungel verlieren, sich in symbolische Höhlen verkriechen, einsam sind, traurig, dem Leben kaum gewachsen, sich nach Aufmerksamkeit sehnen. Das ist knapp und kühl erzählt, zurückhaltend, sparsam, fast lapidar im Ton. Durchaus spannend zu lesen - wenn auch nicht als Roman - und mit der Vermutung, dass daraus mal ein echtes Drehbuch wird.
(Christiane Schwalbe)
Roland Schimmelpfennig *1967 in Göttingen, Journalist, Theaterregisseur und Schriftsteller
Roland Schimmelpfennig
"An einem eiskalten Januarmorgen zu Beginn des 21. Jahrhunderts"
Roman. S. Fischer 2016, 256 Seiten, 19,99 Euro
eBook 18,99 Euro, Hörbuch-Download 15,99 Euro