Christine Wunnicke
Die Kunst der Bestimmung
„Die Liebe sei ein Nichts, welches sich auf Beutefang als ein Etwas verkleide, und schließlich, gesättigt, wie ein Egel verschrumpfe“, so die Professoren und Wissenschaftler der Royal Society im Kabinett des Gresham College, einer Wunderkammer mit allerhand Sonderbarem, das dringend der Kuratierung bedarf.
Ordnung schaffen
Christine Wunnickes Roman, der, 2003 erstmals erschienen, jetzt im Albino Verlag eine zweite Chance erhält, kreist in eleganten Bögen um dieses ‚Nichts‘, ohne es in eine Ordnung zu zwingen. Ordnung zu schaffen ist zunächst Professor Chrysanders Aufgabe, dafür ist der Schwede berühmt, und die naturkundliche Sammlung der Royal Society braucht Struktur. Doch die Begegnung mit einer jungen Prostituierten, in deren Verkleidung sich der 22jährige Earl Lucius Fearnall in Londons Nachtleben herumtreibt, verändert die Koordinaten beider Leben ebenso schleichend wie nachhaltig.
„Ordnung heißt: vom Kleinsten zum Kleinen fortschreiten, nach dem Mittleren tasten, das Große als fern begreifen. Ordnung heißt nicht: kunstvolle Hüte auf unpassende Köpfe setzen. Sammeln heißt gerecht sein mit der Vielfalt. Sammeln heißt nicht: das Schöne, das Abseitige, das Monströse, das Fremde horten.“
Leichtlebige Existenz
Was aber passiert, wenn das Schöne, Abseitige, Fremde die Sammelroutine und die herrschende Systematik ignoriert und sich im Gefühlsleben einnistet? Christine Wunnicke entwickelt mit Esprit und in opulenter Sprache, wie zunächst der junge Adlige den Professor verfolgt und darum kämpft, von ihm erkannt und verstanden zu werden. Er setzt dabei seine ganze bisherige, leichtlebige Existenz, seine Sprache und sogar sein Leben aufs Spiel, während sich Chrysander nur auf Lucy, das weibliche Bild des jungen Mannes, das ihn nicht loslässt, einlassen kann:
„Wenn Lucy das Licht löschte, dachte er an sein Büchlein, an die Ordnung der Zeichen, die Prägnanz des Protokolls, und dann, wenn das Zimmer im Dunkel lag, dachte er nicht mehr daran. Er litt es, dass ihm Lucy die Vernunft nahm…“
Mit seinem Beharren auf den vertrauten Systemen verfehlt und enttäuscht er ihn, den jungen Mann Lucius, schließlich, und auch sein eigenes homoerotisches Begehren verrät er, denn eine mögliche Liebe schrumpft so zum Nichts. Dass sogar sein isländisches Moos, auf dessen Geschlechtslosigkeit er seine Systematik aufgebaut hat, zu blühen beginnt und Samenkapseln bildet, kann der Professor nicht mehr einordnen, und die Aufgabe, für die er nach London geholt wurde, verliert ihren Reiz, - allerdings nicht für die Leser und Leserinnen, die in wunderbar ausgestatteten Bildern und Beobachtungen schwelgen dürfen.
Der Liebe entkommen
Christine Wunnicke zeigt in dieser reichen, barocken Szenerie, wir befinden uns im Jahr 1678, wie sehr der Wunsch, die Dinge zu ordnen und zu bestimmen, seinen Ursprung in der Angst vor dem Unbekannten hat.
“Die Ratio der Nächte blieb dem Professor verborgen. Er schickte sich in das offene Rätsel und vertagte die Lösung auf später. In der Zwischenzeit beschwichtigte er sich mit sorgsamer Klassifikation. Er ersann eine Schrift für die unnennbaren Spiele, einfach, kurz und geheim…“
Im zweiten Teil des Buchs flüchtet Lucius mit Chrysanders‘ lappländischem Diener Kauppi in den Norden, um der Liebe, die im Streben nach Ordnung und Klassifizierung nicht aufgeht, zu entkommen – oder sie im Wiedersehen mit Chrysander endlich einzulösen. Der Versuch des Professors, seine Systeme hinter sich zu lassen, führt ihn schließlich ebenfalls in den hohen Norden Lapplands, und wo seine Kunst der Bestimmung endet, könnte das Leben enden oder das Unbekannte beginnen. Oder auch die Liebe, die sich jeder Bestimmung entzieht.
(Lore Kleinert)
Christine Wunnicke, *1966 in München, freie Autorin von Radiofeatures, Hörspielen und Romanen, erhielt 2020 zwei Literaturpreise, lebt in München
Christine Wunnicke „Die Kunst der Bestimmung“
Roman, Albino Verlag 2021, 282 Seiten, 22 Euro
eBook 15,99 Euro
Weiterer Buchtipp zu Christine Wunnicke
Die Dame mit der bemalten Hand