Eva Munz
Oder sind es Sterne
Sameer ist dreizehn Jahre alt und lebt in einem Waisenhaus in Kabul. Er muss immer wieder Prügel einstecken, fühlt sich einsam, ist unglücklich. Er denkt daran abzuhauen – aber wohin?
Außenseiter
Er wird es aushalten müssen in diesem Heim, in dem er ein Außenseiter ist, weil er anders aussieht: „Manchmal wünsche ich mir, ich wäre unsichtbar und niemand könnte mein rotes Teufelshaar oder meine Sommersprossen sehen, niemand würde seinen Blick von meinen grünen Augen abwenden müssen. Ich wünschte, niemand könnte erkennen, dass ich der Sohn einer Hure bin, die sich von einem sowjetischen Dreckschwein hat nehmen lassen. Die Sünden meiner Mutter stehen in meinem Gesicht geschrieben."
Es gibt einen Onkel, Hasir Zaman, der Geld für Sameer überweist. Er ist ein reicher Exilafghane, der in Paris lebt. Er besitzt eine Firma, die sein Vater
„über Jahrzehnte zu einer geschätzten Marke auf dem internationalen Drogenmarkt aufgebaut hat, (sie) ist so perfide getarnt, dass selbst du nicht mehr durchschaust, hinter welchen Briefkästen deine Firma steckt."
Sie ermöglicht ihm ein sorgenfreies Leben. Aber der Schein trügt. Seine familiäre Vergangenheit lässt ihn nicht los und verwickelt ihn eines Tages erneut in zwielichtige Geschäfte.
Drittes Auge
Und da ist dann noch der US-Marine Ryder, den Sameer "Amrikaner" nennt, der für eine geheime Mission ausgewählt und in einem Trainingscamp in psychologischer Kriegsführung ausgebildet wird. Die Spezialeinheit hat den Codenamen Drishti:
„Es ist ein Wort aus dem Sanskrit, es bedeutet so viel wie drittes oder allsehendes Auge. Sie werden hier lernen, ihre Wahrnehmung zu schärfen. Seit dem Ende des Kalten Kriegs haben wir es mit einem neuen Feind zu tun. Terrorismus. Terrorvereinigungen wie Al-Qaida arbeiten in dezentralen Splittergruppen, die zu einem Netzwerk gehören."
Auch die Schicksale der drei Helden dieses Romans, die die Geschichte jeweils aus ihrer Sicht erzählen, sind durch ein geheimes Netz verbunden, das sich langsam zusammenzieht. Der reiche Onkel fliegt mit seinem Neffen nach Los Angeles, um dort Sameers Mutter zu treffen. Und der streng muslimisch erzogene Waisenjunge wird ziemlich unvermittelt mit dem unkeuschen Glanz der westlichen Welt konfrontiert.
Seelische Verletzungen
Schritt für Schritt enthüllt Eva Munz biografische Details ihrer drei Protagonisten, die mit eigenen Unzulänglichkeiten ebenso zu kämpfen haben wie mit seelischen Verletzungen – als verlassenes Waisenkind, traumatisierter Vietnam-Kämpfer und skrupelloser Geschäftsmann, der mit seiner Heimat auch seine Identität verloren hat. Und wie ein leises Echo im Hintergrund klingt im Leben der drei der Song "Survivor" von Destiny's Child. Er bringt Sameer zu sündigen Gedanken, weckt bei seinem Onkel die Hoffnung auf eine neue Liebe und ist für Ryder willkommene Ablenkung im Trainingslager.
Aber die Ordnung der Welt ist gerade zerbrochen, die weltpolitische Lage nach dem Terroranschlag auf die Twin Towers in New York, die Verfolgung von Al-Qaida, die Fahndung nach Osama bin Laden und der Krieg in Afghanistan bedrohen indirekt auch Sameer, Hasir und Ryder. Das Netz zieht sich zusammen und plötzlich sind alle drei in ein dramatisches Himmelfahrtskommando verwickelt. Sameer macht sich Mut:
„Meine Gebete sind verstummt. Nur Destiny's Lied macht mir Mut. Ich bin noch da. Stärker, wenn auch nicht reicher, aber besser. Ich bin kein Held, aber noch bin ich ein Überlebender, ein Survivor. Und ich bin nicht allein ... Wie kann Allah das zulassen? ... Ich sollte dem Amrikaner eine Geschichte erzählen. Sie wird uns die Zeit vertreiben und uns am Leben erhalten. Beide."
Eva Munz folgt einer Dramaturgie, die zwar sehr konstruiert, in sich aber schlüssig und ungemein spannend erzählt ist. Dabei hilft ihr der ständige Wechsel der Perspektive: Das Geschehen wird - vor dem Hintergrund einer dramatischen militärischen Fehleinschätzung - stets aus der Sicht von Sameer, Hasan und Ryder beschrieben.
Ein ungewöhnlicher Debütroman, der aktuelle politische Konflikte mit privaten Schicksalen verknüpft.
(Christiane Schwalbe)
Eva Munz, deutsche Regisseurin und Journalistin, lebt in New York
Eva Munz „Oder sind es Sterne"
Verlag Antje Kunstmann 2021, München 2021, 304 Seiten, 24 Euro
eBook 18,99 Euro