Monika Helfer
Vati
Shortlist Deutscher Buchpreis 2021
Sie lernen sich im Lazarett kennen: Grete, die Krankenschwester und Mutter der Autorin, und Josef, der Vater, dem der Unterschenkel amputiert wurde, erfroren bei minus 18 Grad in Russland. Ein Krüppel. Und ein zarter, scheuer Mann. Als ihm die Prothese angepasst wird, bekommt Grete Angst, dass er sie nun nicht mehr brauchen und davongehen wird.
Aus dem hintersten Wald
Um nicht übrig zu bleiben, wie sie fürchtet, macht sie ihm mutig einen Heiratsantrag. Josef sagt ja und die beiden gehen zurück ins Elternhaus von Grete,
“dem letzten hinten im letzten Dorf … Ich stamme aus dem hintersten Wald ... wir waren die Ärmsten der Armen.”
Sie leben im kleinen Haus am Berg zusammen mit Gretes Geschwistern – es ist die nächste Generation der “Bagage”, von der Monika Helfer in ihrem gleichnamigen Buch so wunderbar erzählt hat.
"Wovon lebten sie? Auf diese Frage pflegte meine Tante Kathe zu sagen: Das weiß kein Mensch.”
Ein Mann der neuen Zeit
Aber etwas ist anders, denn diesmal sagen die Leute:
“Sie hielten ihn für etwas Besonderes … Endlich hat die Bagage einen, der auf sie aufpasst. Das konnte in ihren Augen nur einer sein, der aus einer höheren Gesellschaft kam, einer bisschen höheren wenigstens.”
Kam er nicht, aber etwas Besonderes war er schon, brachte sich als Kind selbst Lesen und Schreiben bei, schrieb Bücher ab, Seite für Seite, Bücher sind seine ganze Leidenschaft. Kurz vor dem Abitur muss er in den Krieg. Er weiß viel, hilft den Leuten im Dorf bei allem Bürokratischen und bekommt schließlich die Stelle als Verwalter im Kriegsopfererholungsheim auf der Tschengla. Da sind Monika und ihre Schwester bereits auf der Welt. Das Heim hat eine große Bibliothek – ein Paradies für den Vater.
“Wir sagten Vati. Er wollte es so. Er meinte, es klinge modern. Er wollte vor uns und durch uns einen Mann erfinden, der in die neue Zeit hineinpasste.”
Den Tritt verloren
Doch er passt eben nicht wirklich hinein, liebt seine Bücher, die er lustvoll streichelt, daran riecht, darin versinkt, mehr als seine Kinder, und eines Tages wird ihm diese Leidenschaft zum tragischen Verhängnis – der Versuch, sich zu vergiften, mißlingt, aber er ist danach nicht mehr derselbe. Dann stirbt Grete an Krebs, die Kinder müssen zur Tante, wachsen in beengten Verhältnissen auf, ohne Muter und ohne Vater, der sich in einem Kloster verkrochen hat. Nach glücklichem Leben und unbeschwerter Kindheit klingt das nicht. “Unser Vater hatte den Tritt verloren” sagt Tante Kathe und als sie ihn besuchen in der kleinen Zelle, da saß er auf dem Bett,
“die Beine reichten nicht ganz auf den Boden, über dem Knie sah ich den Knick, wo die Prothese angefügt war. War das Bett so hoch oder war er so klein? Ich war kalt und dachte: Er ist geschrumpft.”
Vielfach zerrissen
Monika Helfer nähert sich ihrem Vater vorsichtig, löst ihn langsam aus der Verschwommenheit ihrer Erinnerungen, betrachtet ihn aus den verschiedenen Perspektiven ihrer Kindheit und Jugend. Später heiratete er ein zweites Mal, holt die Kinder wieder zu sich. Im Gespräch mit der Stiefmutter wird das Bild klarer, aber nicht vollständig. Man hat nach dem Krieg geschwiegen in den Familien, die Kriegsgeneration war traumatisiert. Vieles erklärt sich erst später, durch Beobachtung, Erfahrung, Nachforschen, Gespräche. Helfer zeichnet in ihrer schönen, klaren Sprache das subtile, berührende und eindringliche Bild eines rätselhaften und vielfach zerrissenen Mannes, der mit der Welt und dem Leben schwer zurecht kam, selten wirklich Gefühle zeigte, beharrlich auf Distanz ging und sich in die Parallelwelt seiner Bücher zurückzog. Wenn sie schreibt, schaut er ihr noch immer über die Schulter:
„Bis heute höre ich ihn in meinem Kopf, er grätschte mir in Gedanken oft genug in einen Text, wenn ich an der Schreibmaschine saß oder später am Computer, und tut es immer noch, wenn ich mich bemühe, in einer Erzählung eine Szene zu beschreiben. Ich schreibe einen Satz und höre ihn sagen: Aha? Dann definier mir doch einmal! ... Meine ersten beiden Bücher ... erlebte er noch, und ich brachte ihm je ein Exemplar mit einer Widmung - 'Für Vati, der schuld ist, dass ich Bücher liebe' und 'Für Vati, Du siehst, auf dem Rücken steht mein Name'."
Und so wird „Vati“ auch ein Stück Befreiung und Versöhnung.
(Christiane Schwalbe)
Monika Helfer, *1947 in Au/Bregenzerwald, österreichische Autorin von Romanen, Erzählungen und Kinderbüchern, lebt in Vorarlberg
Monika Helfer „Vati"
Roman, Hanser 2021, 176 Seiten, 20 Euro
eBook 15,99 Euro, AudioCD 16,39 Euro
Weitere Buchtipps zu Monika Helfer
"Die Jungfrau"
"Löwenherz"
"Die Bagage"