Monika Helfer
Die Jungfrau
Da sitzen sie wieder, auf der Bank aus Stein hinter'm Haus, zwei Mädchen mit weißen Kniestrümpfen, lassen die Beine baumeln, die nicht bis auf den Boden reichen. „Schon damals wurden Steinbänke für Personen mit längeren Beinen gebaut." Aber sie sitzen da nur in der Erinnerung.
Länger als eine Seite
Inzwischen sind sie 70 Jahre alt und treffen sich nach Jahrzehnten wieder. Glorias Nichte hat einen Brief geschickt: Gloria wolle Moni noch einmal sehen, bevor sie sterbe. Doch vom Sterben kann dann erstmal keine Rede sein, eher vom Leben, denn:
„Ja, Moni, schreib' eine Seite über mich, denn wenn ich sterbe, ist dann noch etwas von mir da. Und du glaubst, eine Seite genügt? Oder sagst du eine Seite und meinst, du schreibst etwas, was auch länger als eine Seite sein kann? Sagen Schriftsteller, sie schreiben eine Seite, wenn sie in Wirklichkeit einen halben Roman schreiben?"
Es wird ein ganzer, und ein ganz wunderbarer dazu: Monika Helfer tastet sich behutsam zurück in die Erinnerungen an diese Freundschaft, braucht nicht viel Worte, um Situationen anschaulich und Personen lebendig zu machen - Glorias Mona-Lisa-Lächeln, ein Schmollmund „wie der von Brigitte Bardot, nur noch schöner". Sie spürt diesem Gefühl der Bewunderung nach, auch dem Neid und der Eifersucht, weil die schillernde, abenteuerlustige Gloria allen Männern gefiel - und doch nie den einen fand, den richtigen, der bei ihr geblieben wäre, zu ihr gepasst und mit ihr geschlafen hätte. Dieses Geständnis lesen wir gleich auf den ersten Seiten, Gloria ist Jungfrau. Und sie ist krank, seit dreißig Jahren - sagt sie jedenfalls:
„Das Urübel ist und war, dass mich meine Mutter Gloria getauft hat. Was kann aus einem Menschen mit diesem Namen schon werden? Immer wird man sagen, die hat eh alles mitbekommen. Die ist schon etwas, bevor sie etwas wird."
Finsteres Hausmonster
So ist es dann auch gekommen, Glorias Mutter ist wohlhabend, aber ohne Mann, der hat sie verlassen. Sie lebt mit ihrer Tochter in einem riesigen Haus mit zwölf Zimmern, einem „finster prächtigen Hausmonster mit dem Park hintendran, auf dem man gemütlich vier Wohnblocks plus Garagen errichten könnte" und futtert sich ein Kilo nach dem anderen an. Gloria will Schauspielerin werden, hat Talent, besteht die Aufnahmeprüfung am Reinhard-Seminar - aber es klappt dann doch nicht, weil sie sich, verliebt in einen verheirateten Professor, nach einem bühnenreifen Auftritt in einer platonischen Beziehung mit ihm verliert. Monis Lebensumstände sind das Gegenteil, mit Vater zwar, aber armselig, in äußerst beengten Wohnverhältnissen in der Südtirolersiedlung, die nicht den besten Ruf hat.
Hinter den sieben Bergen
Was für ein Erlebnis muss es gewesen sein, als Gloria sie buchstäblich mit einem Koffer voller Geld nach New York mitnehmen will, um sich dort entjungfern zu lassen. New York - „ein Märchen. Das lag hinter den sieben Bergen." Und bleibt auch dort, denn ein korrekter Beamte lässt sich die Volljährigkeit nicht weismachen.
„Er sagte: Ihre Ausweise, bitte.”
Und das war's auch schon.
Ich meine, wir waren richtig schön, wir beiden, ich nicht so mondän und grell, aber in Wahrheit viel schöner als die Königin an meiner Seite, die mit ihrem Verstand längst hinter den sieben Bergen weilte.”
Gloria und Mo-Nee, wie die Freundin sie gern nennt, weil das klingt wie aus einem anderen Leben, müssen ohne New-York-Abenteuer wieder nach Hause fahren.
Leben neu erfinden
Immer wieder steigt Monika Helfer aus, reflektiert, was sie gerade schreibt und warum, blickt mit Distanz und Empathie gleichsam von außen auf dieses berührende und zugleich funkelnde Bild einer Freundschaft, in der sich zwei Frauen so unterschiedlich entwickelt haben – die eine heiratet und bekommt Kinder, läßt sich scheiden, heiratet ein zweites Mal, bekommt wieder Kinder, diesmal mit dem Schriftsteller Michael Köhlmeier, der auch in diesem Roman als kritischer Beobachter auftaucht.
Gloria aber bleibt allein im großen Haus, einsam, in Mutters altem Kimono und mit einem Rossschwanz, der grau und dünn geworden ist.
„Dass ich über sie schreiben soll, deshalb: um ihr Leben neu zu erfinden. Diese Absicht traue ich ihr zu. Wenn einer dauernd 'Ich' sagt, heißt das nicht unbedingt, das er daran Gefallen hat, wie er ist. Gloria sagt 'Ich' und schaut mich flehentlich an. 'Ich, ich, ich!' ... Jemand, der ohnehin im Vordergrund steht, muss sich nicht drängen. Und im Vordergrund steht sie, weil sie jeder vorlässt. Weil ich sie immer vorgelassen habe. Aber heißt das auch, dass sie auf diesem Posten glücklich war?”
(Christiane Schwalbe)
Monika Helfer, *1947 in Au/Bregenzerwald, österreichische Autorin von Romanen, Erzählungen und Kinderbüchern, lebt in Vorarlberg
Monika Helfer "Die Jungfrau"
Hanser-Verlag 2023, 150 Seiten, 22 Euro
eBook 16,99 Euro
Weitere Buchtipps zu Monika Helfer
"Löwenherz"
"Vati"
"Die Bagage"