Monika Helfer
Die Bagage
“Hier, nimm die Stifte, male ein kleines Haus, einen Bach ein Stück unterhalb des Hauses, einen Brunnen, aber male keine Sonne, das Haus liegt nämlich im Schatten! Dahinter der Berg - wie ein aufrechter Stein ... Die Familie ist arm, gerade zwei Kühe, eine Ziege. Fünf Kinder."
Klatsch und Tratsch
Monika Helfers Roman beginnt mit der Beschreibung dessen, was Bagage bedeutet: Es ist die abfällige Bezeichnung für eine Familie, die in Armut lebt, am Rand des Dorfes, "da, wo der Boden am billigsten war, und am billigsten war der Boden, weil die Arbeit auf ihm so hart war." Es ist ihre Bagage, deren Spuren sie zurückverfolgt bis zur "überirdisch schönen" Maria, ihrer Großmutter, die mit ihrem attraktiven Mann Josef in jenem kleinen Haus am Fuße des Berges wohnt. "Wir wollten nie etwas Besonderes sein ... aber wir waren etwas Besonderes." Das spüren die Dörfler, sie tratschen über die Familie, sind neidisch. Soviel Schönheit wird mit Argwohn betrachtet, als dürfe das nicht sein bei bitterer Armut.
Krumme Geschäfte
Maria heizt die Fantasie der Männer an, vielleicht hätte man "selber eventuell einen Stich bei der schönen Maria", sie ist gewiß eine Verführerin. Das denkt auch der Bürgermeister, mit dem Josef krumme "Geschäftchen" macht und den er bittet, auf seine Frau aufzupassen und die Familie zu versorgen, solange er fort ist. Er hat seinen Stellungsbefehl bekommen, es ist das Jahr 1914, aber vom Krieg merkt man nicht viel im Dorf, erst als zwei Männer gefallen sind und der Josef schon zum zweiten Mal auf Heimaturlaub kommen darf. Der Bürgermeister, der Maria immer wieder bedrängt, nimmt sie eines Tages zum Jahrmarkt mit, in die nächste Stadt. Dort begegnet sie dem Georg aus Hannover und ist verzaubert von diesem schönen Mann, der so ganz anders spricht als sie, nämlich hochdeutsch. "Verliebt, ja, das war sie, und es war besser als das Gefühl zu Josef, ihrem Mann." Auch die Kinder mögen ihn, mehr als ihren Vater.
Vom Gesicht in den Bauch
Dreimal besucht Georg die Familie. Als Maria wieder schwanger ist, argwöhnen die Dorfbewohner, das Kind sei von ihm. Obwohl Josef Heimaturlaub hatte. Der Pfarrer kommt, verwünscht sie wegen fehlender Moral und montiert das Kruzifix ab.
"Die Frauen plärren, wenn sie dein Gesicht sehen, und sie gehen ihren Männern auf die Nerven. Warum nicht ich? Sie kommen zu mir in den Beichtstuhl und sagen das ...Und vom Gesicht geht's dann direkt in den Bauch."
Sie bringt eine Tochter zur Welt, Grete, die Mutter der Autorin. Josef kommt gar nicht auf die Idee, dass er der Vater sein könnte und ignoriert das Mädchen lebenslang - "er ekelte sich vor ihr." Nach zwei weiteren Schwangerschaften ist Maria gerade mal 32 Jahre alt und hat sieben Kinder geboren.
Leben im Abseits
Monika Helfer erzählt einfach und klar, ihr Roman hat einen besonderen, authentischen Ton. Liebevoll beschreibt sie ihre Verwandtschaft, ihre Onkel und Tanten, deren Rolle in der Familie und ihre Art, mit einer Herkunft klar zu kommen, die sich einfach nicht abschütteln läßt. Immer wieder unterbricht die Autorin ihre Geschichte, um vorsichtig zu kommentieren und Zusammenhänge zu erklären, springt zwischen Vergangenheit und Zukunft, zwischen Fiktion und autobiografischen Fakten und findet verblüffende Vergleiche, als sie im Kunsthistorischen Museum in Wien Bauernbilder von Pieter Bruegel dem Älteren betrachtet:
"Die sehen aus wie die Meiningen aus den Erzählungen meiner Mutter und meiner Tante Kathe. Die Kinder sind wie Erwachsene nur kleiner. Sie tragen die gleichen Kleider, nur kleinere. Sie haben die gleichen ernsten Gesichter, nur kleinere.. Die Häuser sind so klein, man kann nicht glauben, dass da Leute hineinpassen."
"Die Bagage" ist das berührende und sehr persönliche Porträt einer Familie und zugleich die bedrückende Abbildung eines sozialen Ausleseprozesses, bei dem mit Vorurteilen, Dumpfheit und Böswilligkeit Menschen ins Abseits gedrängt werden.
(Christiane Schwalbe)
Monika Helfer, *1947 in Au/Bregenzerwald, österreichische Autorin von Romanen, Erzählungen und Kinderbüchern, lebt in Vorarlberg
Monika Helfer "Die Bagage"
Roman, Hanser Verlag, München 2020, 160 Seiten, 19 Euro
eBook 14,99 Euro, Audio-CD 15,45 Euro
Weitere Buchtipps zu Monika Helfer
"Die Jungfrau"
"Löwenherz"
"Vati"